Vom Aussteigen und Ankommen
Beobachterwissen. Er beobachtete und erklärte, was in der Natur geschah: Die Bussarde wollten jetzt brüten, die Eschen seien früh dran, eine Ammer singe oben auf der Tanne, hier komme der Rote Milan, da schwebe der Schwarzstorch. Der Zilpzalp machte »Zilpzalp«. Wenn sich die großindustrielle Landwirtschaft ganz durchgesetzt habe – und das dauere nicht mehr lang, der Konzern Monsanto habe auch hier im Westerwald schon zahlreiche Höfe aufgekauft –, dann werde es das alles nicht mehr geben, sagte er. Schafe auf der Weide. Einer artenreichen Weide. Artenreiche Schafe. Glückliche Schafe, freie Schafe, freie Weiden. Freie Schäfer. Wolfgang Hamacher wusste, dass er ein Dinosaurier war. Er zeigte mit seinem Hirtenstab, den er zum Spaß »Zepter« nannte, auf die Herde. »Das gibt es dann nicht mehr, außer in den virtuellen Welten, die uns immer noch vorgaukeln werden, das gebe es noch.« Vielleicht konnte gerade ein Mann wie Wolfgang, der die virtuellen Welten überhaupt nicht kannte, klarer deren Nachteile sehen, klarer als der Chaos Computer Club.
Ausdauernd drückte der Wind auf meine Jacke, geduldig bimmelten die Halsglocken der Schafe. Die Tiere fraßen acht Stunden am Tag. Einfaches Leben! Gras fressen von acht bis vier, und die Arbeit wäre erledigt. Fressen, blöken und sich nicht über Schuld, Sünde und Moral den Kopf zerbrechen.
Was war der Mensch? Ein großes Schaf? Ein kleiner Wal? Wolfgang Hamacher stand da in seiner Wolljacke, mit grünem Schal, dreckiger Jeanshose und Schäfermütze, in der Hand seinen Hirtenstab, den »Vorläufer des Zepters, der Königswürde«, wie er sagte. Da stand der Außenseiter hoch über dem Dorf im Westerwald und empörte sich über die Hybris der Bürger in Arborn und der Weltbürger, rieb sich auf am Wesen des Menschen, womit er gerade den Unterschied zwischen Mensch und Tier demonstrierte.
Im Dunkeln rauchten wir wieder Kräuterzigaretten. Wolfgangs Menschenbild war schon lange so düster. Als er die Volksschule besuchte, schlugen die Lehrer die Kinder noch. Wolfgang lernte aus Angst, nicht aus Interesse, die Schule war für ihn eine Enttäuschung. Als er zwölf Jahre alt war und in einem Schulbuch von der heilig-blutigen katholischen Mission in Mexiko las, verlor er seinen Glauben, eine zweite Enttäuschung. Beruflich liefen die Dinge nicht besser. In Köln arbeitete er Anfang der siebziger Jahre als Zootierpfleger. Die Tiere seien schlecht behandelt worden, und niemand habe etwas geändert, als er das ansprach, sagte Wolfgang. Er kündigte enttäuscht, arbeitete als Tierpfleger am Bodensee, wo sich die Geschichte wiederholte. Er wurde Gärtner und kündigte, weil ihm das zu oberflächlich war. Er ging 1983 zu den Alternati ven am Bodensee, doch stellte er enttäuscht fest, dass diese Kin der aus wohlhabenden Elternhäusern die schönen Höfe, die sie gekauft hatten, verkommen ließen und selbst die rostigen VW-Busse davor. Er sah, wie sie alles herunterwirtschafteten und nur kifften.
Wolfgang Hamacher war die Verwöhntheit satt. 1990 heuerte er auf einem Biohof im Westerwald an. Als Knecht, wie er sagt. Schnell war er enttäuscht davon, wie leicht Bio-Kontrolleure zu täuschen waren. Er lernte einen Schäfer kennen und wollte werden, was er auch als kleiner Junge schon hatte werden wollen: Schäfer. Es war doch eine Stefan-Zweig-Geschichte. Aber Wolfgang Hamacher rannte nicht vor seiner Schuld davon, sondern vor der Schuld der Menschheit.
Ob sein Vater im Krieg Schuld auf sich geladen habe, das große Thema seiner Generation, habe er nie hinterfragt, sagte Wolfgang. Deshalb, weil er ihn liebe, und auch deshalb, weil er nicht sagen könne, wie er selbst sich in der Diktatur im Kampf um Leben und Tod verhalten hätte. Mit der Religion hielt er es wie Feuerbach, er sah sie als eine Projektion des Menschen, die die Todesangst linderte.
An seine Kindheit in der Nachkriegszeit im Rheinland hatte Wolfgang auch warme Erinnerungen. Er mochte besonders die Arbeiter. Als Kind hatten ihn der Anblick der von Hornhaut und Rissen gezeichneten schwarzen Hände der Erntehelfer fasziniert, die durchfurchten Gesichter der Landarbeiter. »Das waren keine Gesichter, es waren Landschaften«, sagte er. Jetzt hatte er selbst diese Hände und dieses Gesicht, die ihn als Kind so beeindruckten.
Ob dies auch seine kleine Tochter faszinierte, die bei der Mutter unten im Dorf wohnte, wusste Wolfgang Hamacher nicht.
Das Kloster in der Kölner Altstadt
»Und wenn das Unmögliche sich
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