Vom Aussteigen und Ankommen
mit dem Verkauf seiner Schafe, entweder an andere Bioschäfer oder »an Türken«, wie er sagte. Er zahlte seiner Tochter keinen Unterhalt und sparte kein Geld fürs Alter an, konnte sich aber selbst seit vielen Jahren von der kleinen Schafherde ernähren. Und seine Schafherde, und den Esel, und den Hund. Er wusch sich nur selten seine Hände mit Regenwasser aus der Tonne, manchmal nahm er Seife. Zeitgenössische Sauberkeitsvorstellungen reizten ihn zum Widerspruch: »Ich lebe hier mit Spinnen, mit großen Spinnen, wir haben uns eben aufeinander eingestellt.« Er hatte eine andere Ordnung.
Wir kannten uns erst seit einer Stunde und waren schon tief in den Themen, die Wolfgang Hamacher bewegten. Er sprach über die Zunahme der Allergien, der Neurodermitis, wofür er als Ursache sah, dass die Städter überreinlich seien. »Wir sind nicht für das ganze Wasser und die ganze Seife gemacht«, sagte er. Die Haare wusch er sich selten. Er erzählte, er dusche bei Freunden, zwei- oder dreimal im Jahr. »So macht es mein Esel auch: Wenn das Haar fettet, rollt er sich in der Erde. Staub und Fett halten sich die Waage, das ist ganz einfach.« Der Waldmensch roch nicht mehr nur nach Schaf, sondern jetzt auch nach Zigarette.
Er lebte grün und rauchte grün. Er drehte sich und mir Zigaretten, die keinen Tabak enthielten, jedoch Johanniskraut, Huflattich, Birkenblätter, Minze und andere Kräuter. Tabak vertrug er nicht mehr. Er rauchte schon sehr lange. Seine Zigaretten schmeckten gut, minzig mit einer süßlichen Note. Ich inhalierte tief und dachte: »Wieso fürchten wir den Tag, an dem das Erdöl aus ist? Vielleicht ist dann die Erlösung nahe.«
Blöken riss mich aus den Gedanken. Die Schafe im Stall wurden laut. Wir mussten raus, denn sie mussten raus. Die Weide begann gleich am Waldrand. Wolfgang Hamacher führte die Herde vom Stroh ins Gras.
Die Schafe weideten, und wir stellten uns, da kalter Regen fiel, unter ein Scheunendach. Der Ostwind drückte einige Regentropfen unters Dach. Die Temperatur betrug fünf Grad, ei ne allerletzte Zuckung eines Winters, der für den Waldschäfer so hart gewesen war, dass er erstmals darüber nachgedacht hatte auszusteigen, doch der Rücktritt vom Ausstieg war schwierig. Er wusste nicht so recht, was er sonst tun sollte. Er beschloss also, noch fünf Jahre bis zum Ruhestand weiter Aussteiger zu sein, schließlich brauchten ihn seine Schafe noch.
Wir schauten den Hang herab auf grasende Schafe und den Hütehund, der ausdauernd im Viereck um die Herde rannte. Ein Schaf knabberte an Wolfgang Hamachers Stiefeln, es war ein Flaschenschaf, das bei der Geburt seine Mutter verloren hatte. Der Schäfer war seine neue Mutter. Das Lamm hatte ein braun-weiß geflecktes Fell, es sah aus wie eine kleine Kuh. Es hatte ein Stupsnäschen und sollte im Herbst geschlachtet werden.
Nach zwei Stunden hatte der Ostwind mit seinen Regentropfentorpedos den Widerstand meiner Kleidung gebrochen. Ich trug einen Filzhut. Den hatte ich als Kind in einem Wanderurlaub geschenkt bekommen. Er war mir vor der Reise beim Aufräumen in die Hände gefallen, und ich dachte, er könnte zu einem Schäferleben passen. Ich zitterte, und mir schien, der Schäfer lasse die Herde heute mit Genuss besonders lang grasen, um mir zu zeigen, dass ein alternatives Leben kein Wellnessurlaub ist.
Am Abend saßen wir wieder im Bauwagen. Das war eine gemütliche Bude: Die Decke und die Holzwände waren mit Zeitungsausschnitten behangen, es roch nach Kaminfeuer, und nur eine Kerze erleuchtete den Wagen vom Holztisch aus, an dem wir saßen. Dunkel war es im Wagen nicht nur am Abend, sondern auch tagsüber, wegen der Lage inmitten von Bäumen. Und wenn das Laub der Blätter voll entfaltet sein würde, wäre es im Wagen auch tagsüber nachtdüster; wenn die Natur auflebte, wurde es in Wolfgang Hamachers Höhle dunkel. Der Ofen trug als Erinnerung an den Winter noch eine dicke Müt ze aus Staub, genau wie die Bücher in den Regalen. Die Ker ze ließ Wolfgang Hamachers Gesicht geheimnisvoll leuchten, während die dunklen Wände das Licht schluckten. Herr Hamacher schaute über die Ränder seiner Lesebrille hinaus aus dem kleinen Fenster, aus dem man aus sicherer Distanz weit unten im Tal das Dorf beobachten konnte.
So hatte Wolfgang Hamacher schon Tausende Stunden dagesessen, aus diesem Fenster den Ort betrachtet und nachgedacht über das Dorf, das die Welt war. Winter, Frühling, Sommer, Herbst, Winter. »Die Natur passt sich doch nicht
Weitere Kostenlose Bücher