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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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mir an, sondern ich muss mich der Natur anpassen«, sagte er. »Die Städter passen sich aber nicht der Natur an, sondern dem Menschen. Auch die da unten im Ort in ihren luxusgestylten Wohnhöhlen sind für mich Städter. Einige arbeiten sogar in Frankfurt.«
    Seine Vorstellung von zukünftigem Wirtschaften war die, die ich von Selbstversorgern kannte. »Nur mit Handarbeit werden wir wieder Vollbeschäftigung erreichen, aber erzähl das mal den Städtern, die in ihren Büros sitzen und indirekt das Blut der Tiere trinken«, sagte er. »Ich mag, außer durch die Natur, durch nichts und durch niemanden bestimmt werden, deshalb lebe ich hier. Für mich ist Arbeit nur Arbeit, wenn ich meine Knochen schmerzen fühle. Nicht, wenn ich nach dreißig Jahren am Schreibtisch einen Bandscheibenvorfall kriege. Ich als Schäfer muss Blut fließen lassen, denn sonst fließt kein Geld.« Er sah sich nicht als Aussteiger: »Ich bin Einsteiger. Der, der Fortschritt produziert. Mit minimalem Energieaufwand auskommt. Das ist Zukunft!« Die letzten Sätze klangen wie eine Politikerrede.
    Als Toilette nutzte der Waldmensch einen Eimer, die Fäkalien schüttete er auf einen Komposthaufen. »Meine Scheiße geht nicht über den Bach in den Rhein und in die Nordsee, sondern bleibt hier im Boden.« Er sprach, als habe er denselben Redenschreiber wie der Spaßbauer aus Niedersachsen. Ob sich die beiden gut verstehen würden? Einen Unterschied gab es: Der Spaßbauer war ein ausgestiegener Akademiker, Herr Hamacher war immer Arbeiter gewesen, aber jetzt waren beide Bauern: Da sind sich zwei ähnlich geworden, die nicht vom gleichen Startpunkt aus kamen.
    Der Lebensrhythmus richtete sich nach Sonnenauf- und -untergang. Um zehn Uhr abends legten wir uns schlafen, der Schäfer und seine Spinnen in das Doppelbett im Bauwagen und ich in mein Auto. Die Erfahrung der Dunkelheit war ein tiefer Unterschied zwischen dem modernen und dem vorindustriellen Menschen.
    Mit dem Bauern aus Niedersachsen hatte ich einmal im Winter gesprochen, und er sagte: »Ich liebe am Winter besonders die Dunkelheit und auch die Schatten. Ich setze mich, auch in der Nachbarschaft, dafür ein, dass es dunkel bleibt. Mein Nachbarhof hatte früher so eine Reitplatzbeleuchtung mit nicht abgedeckten Lichtern. So, wie ich mich im Sommer für die Sauberkeit der Quelle einsetze, setze ich mich jetzt für die Dunkelheit ein. Wenn man Geister treffen will, muss man zu dieser Zeit draußen sein. Geister brauchen das Zwielicht.«
    »Geister?«, fragte ich.
    Der Bauer sagte: »Wenn es dämmert, werden die Umrisse fließend, es verwischt sich. Neulich war im Dunkeln ganz dichter Nebel, und ein Freund hatte oben auf dem Hügel, dreihundert Meter vom Hof, in meinem Zirkuswagen geschlafen. Ich ging hoch, und da wurden die Disteln zu mächtigen Gestalten, die mir einen Schauer durch den ganzen Körper gejagt haben. Auf einmal steht so eine mannshohe Figur schemenhaft vor mir. Wenn ich dran denke, krieg ich jetzt noch Gänsehaut. Du kannst wirklich nur Gespenster sehen, wenn du in der Dunkelheit bist. Das kannst du nennen oder rationalisieren, wie du willst. Wenn es dunkel ist, dann gibt es Geister. Ich bin deswegen penibel darauf bedacht, dass kein unnötiges Licht in die Atmosphäre fließt.«
    Wolfgang Hamacher machte die Kerze aus, ich ging ins Auto. In der Nacht wurde es zwei Grad kalt. Draußen im Wald und auch drinnen im Twingo. Der Waldmensch hatte mir eine Kaninchenfelldecke mitgegeben und eine kohlenstaubbraune Bettdecke für die Nacht im Auto, da ich nur einen Sommerschlafsack hatte. Und eine Taschenlampe hatte ich auch vergessen, weshalb mir der Waldmensch seine Leuchtdiodenlampe lieh, deren Batterie man immer wieder aufladen musste, indem man eine Kurbel drehte. Als auch die Taschenlampe aus war, lag ich im Dunkeln zusammengefaltet im Auto, auf einer Decke aus Staub und Kaninchen, trug Unterhemd, Fleece, zwei Kapuzenpullover und eine Winterjacke übereinander. Es war die erste Nacht in meinem Leben, die ich mit einem bayerischen Filzhut auf dem Kopf verbrachte. Das Auto stand auf Laub und Schafkot ein paar Meter vom Bauwagen den Hang herab. Unten im Dorf leuchteten Straßenlichter, von oben blökten abwechselnd ein Lamm in höchsten Engelstönen und ein altes Schaf, das klang wie eine ungeölte Motorsäge; es war das erste Mutter-Kind-Gespräch nach der Geburt.
    Meine Hände und mein Gesicht fühlten sich eisig an, ich schloss die Augen und wurde von einem Glücksgefühl darüber

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