Vom Aussteigen und Ankommen
das Allergeringste, weniger als die Ratte! Sie säbeln sich den Kopf ab, sie fressen im eingekesselten St. Petersburg ihre Kinder, ihre eigenen Kinder, glaub mir. Sie fressen Wale, die intelligentesten Tiere! Siebzig Prozent der Welt ist Ozean, das ist doch der Planet der Wale, nicht der des Menschen! Der Mensch hat so viel Übel auf die Welt gebracht. Krone der Schöpfung, päh! Wir sind nur eines der übelsten Tiere – und wollen Gott gleich sein!« Er wurde etwas ruhiger: »Die Menschen sollen sagen: Wir sind fehlbar und schwach. Dann kann ich sie tolerieren. Aber sie stellen sich immer als Krone der Intelligenz dar. Diese Scheinheiligkeit kann ich nicht so stehen lassen, da muss ich in der Wunde bohren. Die schwarzen Schafe tragen immer die weißesten Westen. Was mich stört, ist, dass wir angeblich ein so intelligentes Tier sein sollen, aber so viel falsch machen.«
Man merkte Wolfgang Hamacher an, dass er im Winter oft tagelang mit keinem Menschen gesprochen hatte und dass ihm die Schafe niemals Widerworte gaben. Es mangelte ihm über lange Jahre an Antithesen. Ich empfand das Zuhören mehr und mehr als anstrengend, und er bemerkte es offenbar: »Ich rede viel, oder? Ich habe Nachholbedarf an Reflexionen«, reflektierte er. Seine Einsichten waren gelegentlich schlicht. Doch eine allzu schlichte Empörung zu viel schien aufrechter als das Lächeln »der Städter«, die jede schlichte Empörung wegen ihrer geringen Ausdifferenziertheit abtaten und so die Möglichkeit, daraus Konsequenzen zu ziehen, unmöglich machten. So warf der Nichtbürger Wolfgang aus der Ferne ein interessantes Licht auf die bürgerliche Gesellschaft.
Ich dachte öfter an Stefan Zweigs Legende Die Augen des ewigen Bruders . Sie stammt aus den zwanziger Jahren und spielt in Indien: Ein hoher Richter am Königshof fühlte sich schuldig, weil er einen Totschläger in den Kerker hatte sperren lassen. Nach einer Diskussion mit dem Verurteilten über Gerechtigkeit und Schuld tauschten die beiden für dreißig Tage den Platz: Der Verurteilte kam frei, der Richter ließ sich einkerkern. Dort erkannte er, wie sehr die von ihm Verurteilten hier litten und wie viel Schuld er durch die harten Urteile, an deren Legitimität er nun zweifelte, selbst auf sich geladen hatte. Um weitere Schuld zu vermeiden, bat er den König, der viel von ihm hielt, um Entlassung: »Es ist Gottes, zu strafen, und nicht der Menschen, denn wer an Schicksal rührt, fällt in Schuld. Und ich will mein Leben ohne Schuld.« Er zog sich jahrelang in seine Bibliothek zurück, sinnierte über Ethik und zog, als seine Skrupel immer größer wurden, als Einsiedler in den Wald: »Wer leben will ohne Schuld, darf nicht teilhaben an Haus und fremdem Geschick, darf sich nicht nähren von fremder Mühe, nicht trinken von anderem Schweiß, darf nicht hängen an der Wollust des Weibes und der Trägheit des Sattseins: nur wer allein lebt, lebt seinem Gotte, nur der Tätige fühlt ihn, nur die Armut hat ihn ganz.« Er wurde im Wald weise und einsam, Vögel nisteten in seinem Bart. Er wurde zur Sehenswürdigkeit: Leute aus dem Dorf reisten in den Wald, um ihn zu »besichtigen«, sie verehrten ihn als Heiligen und imitierten seinen Lebensstil. Und so traf ihn am Ende selbst im Wald die Schuld, als er erfuhr, dass ein Familienvater, der die heilige Lebensart nachgeahmt hatte, also nicht mehr wie zuvor als Weber gearbeitet hatte, sondern auch in die Wälder gezogen war, seine Kinder zu Hause bei der Frau verhungern ließ. »Wie willst du dies sühnen, Hochmütiger?«, fragte ihn die Witwe. »Nichts als ein Hochmütiger bist du gewesen, der du meintest, Herr zu sein deines Tuns und andere zu belehren.«
War Wolfgang Hamacher auch ein Hochmütiger? Stefan Zweigs Aussiedler nahm den Vorwurf an. Er kehrte mit der Einsicht zurück in die Stadt, dass nicht frei werden könne, wer unbedingt frei werden wolle, und dass nur, wer anderen diene, frei sei. Dort bekam er als alter Mann, der nun einfache Arbeit machen wollte, eine Anstellung als Aufseher der königlichen Hunde. Seine eigenen Söhne schämten sich für ihn und wandten sich ab, und sein Leben endete wie bei Werther: Kein Priester begleitete ihn, nur die Hunde heulten zwei Tage und Nächte lang.
Wolfgang Hamacher hatte es nicht zum Ziel, die Schuld zu überwinden. Und trotzdem war die Schuld sein Hauptthema.
Er wusste viel über die Natur, aber es war weniger ein Gärtnerwissen wie das der Selbstversorgerin Heike in Vorpommern, sondern ein
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