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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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ereignete, wenn eine erbarmungslose Diktatur, getragen von einem Heer von Beamten, Sachverständigen und Statistikern, die sich selbst wiederum auf Millionen von Spitzeln und Polizisten stützen, es fertigbrächte, an allen Punkten der Erde zugleich den fleischfressenden Sinn im Zaum zu halten, die wilden und listigen Tiere, die nur für den Gewinn geschaffen sind, die Menschenrasse, die von Menschen lebt (…), dann ließe der Überdruss an der überall als allgemeine Regel aufgestellten aurea mediocritas, der Überdruss an der goldenen Mittelmäßigkeit, nicht lange auf sich warten, und überall würde man freiwillige Armut wie einen neuen Frühling wieder aufblühn sehn.« So heißt es im Tagebuch eines Landpfarrers von Georges Bernanos (1936).
    Zu Fuß vom Hauptbahnhof waren es nur einige Minuten zum Kloster. Es war Verschwendung, so nah am Kölner Dom eine zweite so große Kirche zu bauen. Gegen den Dom wirkte Groß Sankt Martin aber mickrig. Wie ein Steinskelett stand sie am Rheinufer. In dieser Zeit, in der aus Klöstern Wellnesshotels wurden, fand sich dort eine neue Klostergemeinschaft zusammen. Ich erreichte sie kurz vor Beginn des Mittagsgebets und klingelte bei der Communité de Jérusalem. Die in den siebziger Jahren in Paris gegründete monastische Gemeinschaft hatte hier ihre einzige Niederlassung in Deutschland. Bruder Nicolas-Marie kam aus der Tür und nahm mich mit in die Kirche Groß Sankt Martin, er war dünn, fast mager, wirkte zurückhaltend und lächelte meist. So stellte ich mir den Landpfarrer in Georges Bernanos’ Tagebuch vor. Der Landpfarrer, der sich für seine Dorfgemeinde aufrieb, welche den Glauben verloren hatte – der aber auch selbst mit dem Glauben kämpfte, ihn jedoch einer Adligen auf dem Totenbett zurückbrachte, ehe auch er bald darauf den Tod finden sollte.
    Das Kloster war, verglichen mit dem Ökodorf, eine winzige Gemeinschaft, hier lebten vier Brüder, sieben Schwestern und keine Kinder. Ich setzte mich in eine der hinteren Reihen. In weißen Kapuzenumhängen saßen die Brüder und Schwestern auf Schemeln vor der Treppe, die zum Altar führte. Acht Leute waren außer mir in der Kirche, es war Platz für dreihundert. Man hörte Vogelgezwitscher von draußen, es klang aber, als hätte sich eine Meise in die Kirche verflogen.
    Innen war die Kirche nüchtern und warm zugleich. Der Sandstein war nackt, nur an den Füßen der romanischen Säulen waren blasse Farbreste zu sehen, rot und blau, geometrische Muster. Im Kirchenschiff standen Holzstühle statt Kirchenbänke. Stahlleuchten hingen an langen Spaghettikabeln von den Decken. Obwohl der Krieg keinen Stein auf dem anderen gelassen hatte, war es wieder ein betender Raum.
    Alle blickten nach Osten auf den Altar und das schlanke Kruzifix. Die Schwestern hatten sich die spitzen Kapuzen ihrer weißen Kutten über die Köpfe gezogen. Sie saßen still links vor dem Altar, die Brüder rechts und ohne Kapuzen. Eine Bruderglatze glänzte wie ein Heiligenschein.
    Zu Beginn des Mittagsgebets standen sie auf. Die Armteile der Kukullen, ihrer Gewänder, waren so breit, dass sie von hinten aussahen wie Flügel, wenn die Brüder ihre Arme zu den Seiten hin ausbreiteten. Alle trugen Sandalen. Sie sangen das Gebet, vor allem Psalmen, und nach jedem Psalm: »Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist wie am Anfang so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.« Dabei verbeugte sich die kleine Gemeinde, und alle bekreuzigten sich.
    Alles wurde gesungen. Die Lieder waren voll von Wörtern, die man nur noch in der Kirche hört: Gnade, Vergebung, Erbarmen. Sie waren ohne den Glauben vom Aussterben bedroht wie der Orang-Utan oder die Rohrdommel, das Gebet war ihr Lebensraum. Nur einmal sprach jemand. Eine Schwester legte einen Psalm aus. Sie klagte in diesem Zusammenhang über das »Geschwätz« der Journalisten, das oft nur deswegen zustande käme, damit die Zeitung gefüllt werden könne. Sie wussten ja, dass ich da war. Meinte sie mich?
    Das Geschwätz. Ein Leitmotiv aus Ernst Wiecherts Roman. Der Psalm, der den Satz enthielt: »Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz«, bewegte den Romanhelden zum Aussteigen.»… damit die Zeitung gefüllt werden könne« – die Schwes ter verstand sicher nicht viel vom Zeitungmachen. Sie sagte, es sei die große Gefahr der Zeit für die Kirche, im »Stroh der Wörter« unterzugehen. Mich störte das frömmliche Lächeln der Schwester, so als schwebe sie über allen Dingen. »Heilige

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