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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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Schwester«, dachte ich, »du hast demütigst deine Individualität aufgegeben und verschmutzt den Geist der Welt nun mit weniger Geschwätz, nur drei Minuten am Altar.« Oder hatte sie recht?
    Nach dem Gebet ging ich mit Bruder Nicolas-Marie hinüber in die Wohnung. Das Wohnhaus der Mönche lag so nah neben der Kirche, als sei es an sie herangewachsen. Das Haus erweckte den Eindruck, als sei es bewusst hässlich gestaltet, um seinen Bewohnern die Kirche umso himmlischer erscheinen zu lassen.
    An den Hauseingang hatte jemand mit rosa Kreide ein Herz gemalt und »Danke!« hineingeschrieben. Die Brüder wussten nicht, ob dies ihnen galt. Die Sternsinger hatten das Kürzel »C+M+B+2010« nicht mit Kreide über den Türrahmen geschrieben, sondern auf Aufklebern hinterlassen, so wie Graffitisprayer ihre Tags an Laternenmasten. Köln war eine Metropole, hier waren die Sternsinger cool. Von außen wie von innen sah das Haus aus wie eine Schulsporthalle von 1973. Es roch auch so: Im Hausflur mischten sich Duftnoten von Plastikboden, Reinigungsmittel und Sauerstoffmangel. Die Feuerlöscher und der grün genoppte PVC-Boden bildeten einen schulbuchhaften Rot-Grün-Kontrast. Die Wände waren aus Beton; der Beton hatte feine Löcher, seine Struktur sah aus der Nähe betrachtet aus wie die eines antiken Eichensekretärs, der vom Holzwurm zerfressen war. Ich ging die Treppe hoch, Bruder Nicolas-Marie vor mir. In der zweiten Etage lag die Wohnung der Brüder. Über deren Türschwelle hatten die Sternsinger echte Kreidespuren hinterlassen. Ich trug meinen Rucksack ins Gästezimmer im vierten Geschoss, ging wieder hinunter, wo das Essen fertig war. Die Eingänge der Männer- und Frauenwohnung lagen direkt nebeneinander. Die Brüder, Nicolas-Marie, Thibaut, Fabienne-Marie, Jean-Tristan, vier Franzosen, waren bemerkenswert jung. Der Altersdurchschnitt hier im Kloster lag vermutlich unter dem des Ökodorfs, wobei man doch eigentlich »Kloster« und »Nachwuchssorgen« in einem Satz sagt wie »Sizilien« und »Mafia«.
    Die Brüder lebten erst seit einem Jahr hier und hatten in dieser Zeit schon sehr gut Deutsch gelernt. Der Prior Nicolas-Marie, siebenunddreißig, war früher Weltpriester gewesen und seit neun Jahren Mitglied der Communité de Jérusalem. Die Idee dieser katholischen Gemeinschaft war es, mitten in die »Wüste der Stadt« zu ziehen und halbtags einfachen Arbeiten nachzugehen. Nach dem Frühgebet arbeiteten die Brüder und Schwestern bis zum Mittag, manche als Verkäufer, manche in Büros, die meisten hatten Vierhundert-Euro-Jobs. Thibaut hatte vorher Biologie und Finanzwissenschaft studiert und war vor drei Jahren beigetreten, Fabienne-Marie war Betriebswirt und ebenso wie Thibaut auch erst zweiunddreißig. Jean-Tristan war dreiundvierzig und hatte vor seinem zölibatären Wandel als Bankangestellter gearbeitet. Auch er war, wie seine Ordensbrüder, jünger als dreißig gewesen, als er sich für diese Lebensform entschieden hatte. Sie verzichteten auf Kinder, Besitz, Ausgehen, Ausschlafen, Strandurlaub, Sex, Rockmusik, auf ihre alten Freunde – lebenslang.
    In der Wohnung der Brüder setzte sich die Komposition von Grau, Grün und Rot fort. Im ersten Raum war hinter einer Glastür ein Altar mit einem Holzkreuz aufgestellt sowie einer Marienikone, ein ewiges Licht brannte. Der nächste Raum war eine christliche Bibliothek, die Küche klein und sauber. Das Esszimmer war mit einem Kreuz und einer Christusikone ausgestattet. Wir aßen dort gemeinsam zu Mittag – schweigend, an einem U-förmigen Holztisch, mit Blick auf die Ikone. Es gab dünne Erbsensuppe, gefüllte Auberginen, Obst. Vor und nach dem Essen sangen wir ein christliches Lied, sonst schwiegen wir.
    Zur Begrüßung wurde nach dem Essen das Schweigen ausnahmsweise gebrochen. Wie sie in ihre Marzipankartoffeln bissen, fiel mir auf, dass die vier sehr blass waren. Landmönche arbeiteten im Kräutergarten. Diese hier aber hielten sich fast nur in der Kirche und in Wohnräumen auf. Die Brüder wollten viel von meiner Reise wissen. Ich erzählte vom Ökodorf und dem Waldmenschen. »Wir können dir, wenn du magst, in deinem Zimmer auch das Wasser und den Strom abstellen, das wäre kein Problem«, sagte Bruder Jean-Tristan.
    »Jetzt machen wir ein Mittagsschläfele«, sagte Bruder Nicolas-Marie mit seinem französischen Akzent.
    Auf dem Boden meiner Zelle (so nannte man die Zimmer) lag ein Gebetsteppich mit einem Christusbildchen und einer Bibel, auf dem Schreibtisch

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