Vom Aussteigen und Ankommen
lag ein Zettel, auf dem der Tagesablauf stand:
6.30 Uhr stilles Gebet
7.00 Uhr Laudes
12.30 Uhr Mittagsgebet
17.30 Uhr stilles Gebet
18.00 Uhr Laudes
18.30 Uhr Eucharistiefeier
Donnerstags 19.30 bis 0.30 Uhr eucharistische Anbetung
Und täglich um 15.00 Uhr war die Lectio Divina. Jeder Bruder sollte dann in seiner Zelle in der Bibel lesen.
Um 17.30 Uhr fanden wir uns in der Kirche ein. Nicolas-Marie predigte mit freundlichem Blick, sein Sprachduktus war ernst und klar. Die Kirche brauche heute wieder Demütige und Arme, sagte er, die voller Freude das Evangelium empfingen und predigten. Dann sprach er vom Jüngsten Tag, dass wir am Tag des Jüngsten Gerichts Rechenschaft ablegen werden müssen über jedes falsche Wort und für unseren Unglauben. Das hätte Wolfgang Hamacher gefallen: Hier wehte der raue Wind des Alten Testaments.
Jetzt waren schon wieder so wenige Leute da, und dann verschreckten die Brüder und Schwestern von Jerusalem diese auch noch mit solchen Botschaften. Als das Evangelium gelesen wurde, drehten sich die Schwestern zum Altar. Nun waren ihre Gesichter im Profil zu erkennen. Sie hatten hohe Stirnen, guckten fromm und etwas verklärt, ihre Körper waren schlank, ihre Haltung gerade. So sahen sie aus wie geschnitzte Heiligenfiguren. Dann sangen sie wieder, entrückt, weltfremd, rührend – sie standen ihr ganzes Leben da und sangen jahrhundertealte Lieder, für ein paar Zweifler und ein paar Fromme, alle Türen unserer Zeit standen ihnen offen, doch sie lebten einfach nur für zarte Hallelujarufe.
Schweigend aßen wir zu Abend. Fabienne-Marie las einen Text über die Vita des heiligen Petrus Canisius vor, eines deutschen Gegenreformators der friedlichen Art. Vor dem Essen sangen wir ein christliches Lied, zum Essen hörten wir Kantaten. Bruder Fabienne-Marie hatte einen starken französischen Akzent, er fauchte das R und zischte das Ch: »Ehre sei dem Vatech«, »Im Spiegel deines Lischtes erkenne isch …« Es gab dünne Suppe mit Lauch, die nach Glutamat schmeckte und nach Knoblauchpulver, danach Pizzastücke und zum Nachtisch Fruchtkompott. Der Wasserkrug war mit einem Kreuz bemalt. Mir schien es, als sei das Abendessen die Fortsetzung der Abendmesse. Alkohol tranken die Brüder selten, nur einen Schluck Messwein am Abend und zum Essen an den Hochfesten: Weihnachten, Ostern, Christi Himmelfahrt. Dann aßen die Schwestern und Brüder sogar gemeinsam.
Jesus guckt
Nach dem Abendessen saß ich noch eine Weile in meinem Zimmer. Christus schaute streng. Da stand er auf dem Gebetsteppich. Das Christusbild im Holzrahmen zeigte einen Kopfausschnitt schwarz auf orangefarbenem Hintergrund, er sah ähnlich wie auf dem Turiner Grabtuch aus, aber konkreter, ikonenhaft. Ich erinnerte mich daran, dass ich als Kind manchmal Angst hatte, nachts erscheine mir der auferstandene Jesus. Als ich nun schlafen gehen wollte, kam kurz diese alberne Kindheitsfurcht wieder hoch. Es gab keine Möglichkeit, dem Blick des Christusbildes zu entgehen. Jesus fixierte mich mit seinen kleinen Pupillen in großen Augen. Der humorlose Blick des Grabtuch-Jesus durchdrang mich. Ich dachte darüber nach, das Bild umzudrehen. Doch das war ja nicht der Sinn meines Aufenthalts, ich würde mich der Sache jetzt stellen müssen. Ich schaltete das Licht aus und zog die Bettdecke bis unter die Nase.
Der Wecker klingelte um 6.25 Uhr. Die Frühmesse hatte außer mir einen Besucher. Mir fielen die Augen fast zu. Sie sangen Psalm eins, und die Härte der Worte machte mich wach:
Wohl dem Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt, nicht auf dem Weg der Sünder geht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern Freude hat an der Weisung des Herrn, über seine Weisung nachsinnt bei Tag und bei Nacht. Er ist wie ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken. Alles, was er tut, wird ihm gut gelingen. Nicht so die Frevler: Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht. Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehen noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten. Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten, der Weg der Frevler aber führt in den Abgrund.
Ich hatte vergessen, wie unmissverständlich das Alte Testament war, und verstand, warum Wolfgang Hamacher es so mochte. Ersetzte man »Frevler« durch »Städter«, schien es wie aus seiner Feder. Das Alte Testament hatte wenig mit gitarrenzupfweicher Jesuslatschen-Harmonie zu tun. – Dann die Lesung aus dem ersten
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