Vom Aussteigen und Ankommen
von Damanhurianern nach ihrem eigenen Abbild getöpfert und sollten ihre geistige Präsenz an den heiligen Stätten symbolisieren, selbst wenn sie weit weg waren. Auch den Wald des Bewusstseins durften nur Damanhurianer betreten. Die Sitten an den heiligen Stätten waren streng. Man durfte das Areal rund um den Tempel nur nach einer Führung allein betreten.
Zwischen den heiligen Stätten lagen Wohnhäuser eines weiteren Nucleos, einer Großfamilie. Die Wände waren bunt bemalt mit Menschen-, Tier- und Pflanzenmotiven. Die Menschen waren am kleinsten dargestellt und die Tiere, egal ob Wal oder Heuschrecke, oder die Pflanzen, beispielsweise ein Schilfhalm, vielfach größer. »Damit wir uns immer daran erinnern, dass wirklich alles relativ ist und der Mensch nicht das Zentrum der Welt«, sagte Macaco. Dass »wirklich alles relativ« sei, klang in meinen Ohren nun aber auch wieder unübertrefflich absolut. Die Damanhurianer behaupteten allerdings nie, unfehlbar zu sein.
Die Gemeinschaft hatte auch ein eigenes, ethisch orientiertes Geldverleihsystem, eine kleine Bank gewissermaßen. Sie hatte eine Verfassung und Verfassungsrichter, die vom Volk gewählt wurden. Und drei Richter, die bindende Entscheidungen fällten, wenn ihnen Konflikte vorgetragen wurden. Der Föderalstaat Damanhur wurde von zwei gewählten Königen regiert, und die Nuclei wählten Familienoberhäupter, die ihre Familie vor den Königen vertraten. Jeder Bürger sollte einen Dienst im Staat leisten, was fast preußisch klang. Das oberste Prinzip der Gemeinschaft war es, dem gesunden Menschenverstand zu vertrauen. Damanhur hatte bis zur Oberstufe eigene Schulen, ein eigenes Katastrophenhilfswerk und wie die Christen auch eine eigene Zeitrechnung, in der das Gründungsjahr der Föderation 1975 das Nulljahr war. Paare heirateten auf Zeit, auch Maca co hatte ihrem Mann, einem Architekten aus Südamerika, schon mehrmals ihr Jawort gegeben.
In diesem neuen Staat war wieder eine Identität von Staat und Bürgern geschaffen, er war im Gegensatz zu den realen Staaten historisch unbelastet.
Das Einkaufszentrum Damanhurs hieß »Damanhur Crea«. Es lag an einer Straße in einer früheren Elektroartikelfabrikhalle von Olivetti. Hier gab es touristische Souvenirs, im Supermarkt qualmten Räucherstäbchen, es gab eine Espressobar, eine Kunstrestaurationswerkstatt, ein Immobilienmaklerbüro und eine große Gemäldeausstellung mit Hunderten Bildern des Falken. Fast alle Damanhurianer bewunderten Falcos Kunststil, seine sogenannten Selfic Paintings. Auf grelle, neonfarbene Flächen hatte er goldene Spirallinien geschwungen, die Energien ausstrahlen sollten. In Damanhur galt wie bei Joseph Beuys und Marcel Duchamp das Motto, jeder Mensch sei ein Künstler und jede Arbeit sei Kunst.
Als wir durch das Crea gingen, blieben wir vor einer Fotowand stehen. Daran hingen Schwarzweißbilder von früheren Arbeitern, die hier in der Olivetti-Fabrik vielleicht in der Nachkriegszeit beschäftigt waren. Macaco tippte mit ihrem Zeigefinger zielstrebig auf ein Gesicht und sagte: Seltsam, der sehe aus wie ich. Er sah wirklich aus wie ich. Das war mir etwas unheimlich.Wir aßen biologischen Mittagstisch, einen Gemüseteller mit Kalbsfleisch. Jetzt sprachen wir ein paar persönliche Sätze (es hatte sich herausgestellt, dass wir in sehr nahe beieinanderliegenden Städten aufgewachsen waren), doch grundsätzlich blieben wir in unseren Rollen, die in der Öffentlichkeitsarbeit routinierte Macaco als Öffentlichkeitsarbeiterin und der Journalist als Fragensteller. Es schien, als habe Macaco viele meiner Fragen schon oft beantwortet, und auch an diesem Abend kam wieder ein Fernsehteam, um das sie sich kümmern musste. Aber sie tat das nicht für Geld oder nur aus Pflichtgefühl, sondern aus Überzeugung. Sie wollte ihre Welt gut und realistisch darstellen, sie wollte nicht wieder Missverständnisse aufkommen lassen, sie war mit der Gemeinschaft identifiziert. Ich mochte sie, sie war eine besondere Frau. Von Beruf Jazzsängerin. Macaco war hier nach einem halben Leben, das eine Weltreise war, angekommen. Sie war eine Künstlerin, die Künstler liebte, neue Ideen, eine Kosmopolitin, und das schien der richtige Ort für sie zu sein.
Abends las ich weiter in dem Ordner, der im Campingwagen lag. Das Kapitel »Spiritual People« begann wie folgt:
In dieser historischen Periode, in der die Rassen und Völker verschwinden und die Menschlichkeit verlorengeht (am Ende des Jahres 1986), wollten
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