Vom Aussteigen und Ankommen
Weizentofu. Anstelle der Tiere auf meinem Teller saßen um mich herum nur Menschen mit Tiernamen: Macaco, Capra, Canarino, zwölf weitere und das Baby mit dem runden Kopf auf dem Schoß des Vaters mit dem runden Kopf. Manchmal nahm auch eine Frau, die von den Haarspitzen bis zum Doppelkinn aussah wie Claudia Roth, das Baby zu sich. Alle Familienmitglieder erzogen die Kinder gemeinsam. Auch über die Erziehung wurde in der Gruppe regelmäßig diskutiert, genauso wie über die Küchendienste.
Im Wohnwagen lag ein Ordner mit Informationsmaterial, so wie in einem Hotelzimmer. Die ersten Seiten beschrieben die Geschichte und den Tagesablauf: »Dendera liegt in der Gemeinde Tentyris im Verwaltungsdistrikt Lugnacco, im selben Gebiet wie das benachbarte Nucleo Magilla.« Es war unklar, ob Tentyris und Lugnacco die offiziellen Namen der Orte waren oder die damanhurianischen. Eine Zwischenüberschrift lautete »The ›happy family‹ of Dendera«. Die glückliche Familie bestand aus neunzehn Erwachsenen, fünf Kindern, fünf Katzen und zwei Hunden. Jeder hatte eine Funktion: »Capra Carruba is responsible for our guests at Dendera, Mamba Iperico is in charge of the work on the territory. The person responsible for our agriculture is Rospo. The Regent of the Nucleo Community of Dendera is Oca Isatis. The other people of the family are: Canaria, Cervo Volante Ginepro, Ciprea Calendula, Drago, Formica Coriandolo, Gambero Finocchio selvatico, Goura Loto, Inti China, Kola Asparago, Macaco Tamerice.«
Die nächste Seite beschrieb Regeln und den Tagesablauf. Jeden Tag übernahm ein Mitglied der Familie den Küchen- und Haushaltsdienst, andere mussten Dienste wie Garten- oder Erziehungsarbeit erledigen. Für jeden brachte diese Arbeitsteilung im Vergleich zum normalen Kleinhaushalt, wo jeder alles machen musste, einen Zeitgewinn. Jeden Abend war der Tisch gedeckt, nur ab und zu musste man ihn selbst decken.
Der Alltag hatte so viele Leitplanken wie in einer streng pietistischen Familie vor hundert Jahren. Auf dem gesamten Gelände von Damanhur war Rauchen verboten, drinnen und draußen. Drogen waren verboten, übermäßiger Alkoholkonsum. Man durfte nicht einfach so Obst von den Bäumen essen: »Die je erste Frucht bieten wir den Naturgeistern dar. Wir bitten Sie, halten Sie sich fern von den Früchten der Bäume oder dem Gemüse, ehe Sie nachgefragt haben, ob diese bereits den Geistern dargeboten worden sind.« Die gemeinsamen Mahlzeiten fanden um 13.00 und 19.30 Uhr statt.
Ich las weiter: Dendera war vor drei Jahren mit der Idee gegründet worden, den Austausch mit Gemeinschaften aus der ganzen Welt aufzubauen, es war also das Auswärtige Amt. »The intention is to promote the formation of an international ethical market made up of human, commercial, spiritual and material exchanges, so as to support the development of innovative social realities.« Ein ethischer Marktplatz zur Förderung innovativer Gesellschaftsformen? Konkreter wurden für den Hausbau ökologische Materialien eingesetzt, die Energie mit Solarzellen, Biogas und Geothermie gewonnen, das übliche Programm zur Vergrößerung des ethischen Fußabdrucks, und vor zwei Jahren hatte die Familie auch damit begonnen, ein Strohballenhaus zu errichten. Freunde aus dem Ökodorf Sieben Linden hätten dabei geholfen, stand in dem Ordner. Die Ökosiedler kannten sich. Die Einführung endete: »Con te!« Das war der Gruß: »Ich bin bei dir.« Oder, wenn man mehreren Menschen begegnete: »Con voi!« – »Mit euch.«
Der Hahn krähte. Im Gemeinschaftsraum machten sich Schulkinder Brote. Jeder nahm sich selbst aus den vollen Kühlschränken.
Macaco trug am Morgen einen Bademantel und rührte im Milchkaffee, sie erzählte weiter von ihrem Land wie eine Pressesprecherin von Bayer über die Stärken des Unternehmens. Damanhur war so anders, dass ich mich von den Eindrücken erschlagen fühlte. Es hatte eine eigene Ökonomie, eigene religiöse Riten, ein eigenes Rechtssystem, ein eigenes politisches System. Seit ihrer Gründung vor fünfunddreißig Jahren hat die Gemeinschaft eine eigene Kultur entwickelt: Riten und Regeln, angeblich auch eine eigene Sprache, die ich aber niemanden sprechen hörte. Wer hierherzog, lebte zwar weiter ziemlich wohlhabend, verzichtete aber andererseits trotzdem auf vieles. Darauf, mit dem alten Namen angesprochen zu werden, auf individuelle Freiheiten, auf große Teile des Geldvermögens und Einkommens, auf die Freiheit, einfach zu tun und zu lassen,
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