Vom Aussteigen und Ankommen
Unterschied wurde mir im Vergleich zu den Kölner Jerusalemisten deutlich. Die Religiösen glaubten, dass unser Leben Gnade Gottes sei, und diese Gnade konnte der Mensch nur von Gott, von »außen« empfangen, das Leben, die Liebe, die Natur, und darum beteten sie, um dafür zu danken und darum zu bitten. Esoteriker wollten sich dem Göttlichen, das für sie abstrakt war und nicht Person, von sich aus nähern. Durch spirituelle Zeremonien und ein ethisches Leben wollten sie ihre Göttlichkeit bewahren und ausbauen. Sehr vieles war ähnlich, aber das war der Unterschied: »von außen« – »von innen«.
Gräber im Berg, Leben auf Bäumen
Am Nachmittag besuchten wir endlich den unterirdischen Tem pel. Capra, die andere Deutsche aus Dendera, fuhr mit mir dorthin über eine schmale kurvige Straße den Tempelberg hinauf. Unser Auto hielt vor einem grünen Eisentor an, Capra klingelte, das Tor öffnete sich.
Auf dem Grundstück am Hang stand ein Einfamilienhaus, das fast normal aussah, aber wieder mit großen Pflanzen- und Tiermotiven bemalt war. Nach unten hin wieder der herrliche Talblick.
Hier hatten Falke und seine Freunde die Sternschnuppe gesehen. Dann begannen sie, mit Hammer und Meißel Gänge zu schlagen; später nahmen sie elektrische Bergmannsgeräte. Aber wo war er, ihr schöner Tempel?
Hinter einer Seitentür, die vorgaukelte, sie führe bloß in einen Geräteschuppen, begann ein langer Flur. Er wirkte wie der Eingang in eine Pyramide. Ägyptische Götterbilder, Hieroglyphen und Symbole wie der Isis-Schlüssel zierten ihn. Es wunderte mich gar nicht, dass sich hier jetzt eine Geheimtür öffnete und in den Berg hinabführte, obwohl dies die erste Geheimtür gewesen war, die ich in meinem Leben jenseits von Agentenfilmen, Mickymausheften und Geisterbahnen gesehen hatte. Auf einer Schiene fuhr ein Felsteil zurück, und wir traten ein in die heiligste Stätte der Damanhurianer, den »Tempel der Menschheit«, gewidmet dem göttlichen Teil des Menschen.
Raum eins hieß »Das Labyrinth«. Die Wände seiner Gänge waren bunt bemalt, farbig hinterleuchtete Glasfenster zeigten Dutzende Götter. – Meine Damen und Herren, in unserem Varietétheater treten heute Abend auf:
Hades, der Totengott aus Griechenland,
Manitu aus einem alten Indianerstamm.
Und aus Babylon für Sie eingetroffen: Sin, der Gott des Mondes.
Aus Indien: Brahma.
Auch aus Griechenland Pan, der Gott der Hirten.
Und Osiris aus dem alten Ägypten, der Bruder im Geiste des Hades.
Jesus Christus, ganz Mensch, ganz Gott, gekreuzigt, gestorben und auferstanden.
Anubis, der Gott der Totenriten, soeben vom Nil eingetroffen.
Die Urmuttergöttin Gaia – zuletzt wohnhaft im alten Rom.
Aus der Mongolei: Tengri, Gott des Himmels.
Und aus dem hohen Norden Ran, die am Meeresgrund über die Seelen der toten Wikinger herrscht.
Übermannsgroße Marmorgestalten verzierten die Enden der Labyrinthgänge. Jede der Figuren guckte in eine andere Richtung, wies mit ihrem Blick in einen anderen Gang. Das sollte bedeuten, so erklärte Capra, man könne die Antworten auf seine Fragen nur in sich selbst finden.
Das Labyrinth war dem Thema »Verbindung« gewidmet: Alle Völker seien über ein spirituelles Ökosystem miteinander verbunden. Denn die Damanhurianer glaubten, dass der menschliche Geist den Tod überlebe, und sie glaubten auch an die Wiedergeburt, was dann ja doch ein Dogma war.
Hinter einem Götterfenster lag der tote Riccio Limone. Sein Namensschild und ein kleines Lichtbild waren unten am Fenster angebracht. Hier im Tempel waren die Urnen aller Toten Damanhurs beigesetzt. Viele Menschen waren hier noch nicht gestorben, zahlreiche Plätze waren noch frei. Der Tempel war eine Begräbnisstätte – so wie im alten Ägypten die Pyramiden für die Pharaonen.
Die Wände waren mit fantastischen Motiven bemalt. Sie stellten die ganze Geschichte der Menschheit auf ein paar Metern dar. Als trennendes Feuer, das die Erinnerung an die Vorzeit zerriss, war der Brand der Bibliothek von Alexandria dargestellt. Danach, so die Darstellung, schrieb die katholische Kirche die Geschichte neu. Kreuzritter mit Schwertern und Mohammedaner mit Säbeln schlugen sich ein paar Meter weiter die Köpfe ein. Der Kolonialismus, die Genozide, Luftkrieg oben am Himmel, Aufbruch der Mauer, Aufbruch aus dem Sozialismus, und als momentaner Endpunkt der Geschichte stand für die Gegenwart der gierige Manager auf purem Gold, aber mit leerem Koffer da.
Als eine grüne, freie Wiese
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