Vom Aussteigen und Ankommen
was man will. Ein Einzelner, der als gutverdienender Single hierherzog, konnte das als großen Verzicht empfinden, andererseits gab es diese Entbehrungen in jeder herkömmlichen Familie.
Die Menschen, die hierherzogen, hatten dafür viele Grün de. Einige sagten, sie hätten ihr Leben mit anderen teilen wollen, andere wollten es vereinfachen, alle wollten ihm eine neue Qualität geben. Macaco schwärmte davon, dass, wenn jemand eine Idee habe, es hier immer Leute gebe, die mitmachten. Zum Beispiel ein Baumhaus bauen, ein Beet pflanzen, Theater spielen. Alle suchten ein »Klima des Miteinanders«, gegenseitige Unterstützung in der Verwirklichung von Träumen statt des üblichen Gegeneinanders in der Berufswelt. Im Leben solle es schließlich um mehr gehen als um die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Macaco beschrieb das so: »Vom Atom zum Molekül werden.«
Das klang attraktiv. Aber Tiernamen annehmen, sich gleich eine neue Kultur aus den Scherben der Kulturen selber basteln – wieso war das nötig, um vom Atom zum Molekül zu werden?
Hinter dem Parkplatz des Welcome Center erhob sich ein Hügel, worauf das eine große Heiligtum lag, der offene Tempel, der nicht mit dem anderen Heiligtum, dem unterirdischen Sechsundsechzig-Euro-Tempel, zu verwechseln war. Ich musste meine Daten auf einem Formular hinterlassen und bekam einen Besucherausweis, dann gingen wir den Hügel hinauf. Figuren und große Masken wie aus dem antiken Theater säumten den Weg. Dann kam der offene Tempel. Er war einer antiken Stätte nachempfunden und bestand aus zwei Reihen mehrerer schlanker Terrakottasäulen, die auf einen Altar hin zusammenliefen. Auf dem Boden zwischen den Säulen waren Linien eingezeichnet, auch sie liefen auf den Altar zu. Zwischen den Säulen standen merkwürdige getöpferte Figuren, menschengroß, naiv geformt mit zu kleinen Köpfen oder zu dicken Beinen. Ein weißes Gittertor versperrte den Weg zum Altar, rechts und links vom Tor standen eine Kuh- und eine Sonnenfigur, als bewachten sie ihn. Noch einen Meter weiter links und rechts waren blaue Säulen mit hinaufkriechenden Schlangen bemalt. Die rechte Säule hatte eine Glocke wie ein Kirchturm. Macaco erzählte ehrfürchtig vom Tempel – wie eine griechische Fremdenführerin vom jahrtausendealten Tempel von Delos.
Im Internet gab es Seiten von Menschen, die anonym angaben, hier gelebt und Damanhur verlassen zu haben. Sie stellten die Gemeinschaft als Sekte dar, die Aussteiger verfolge. Macaco vermutete ja, hinter verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Aktionen gegen Damanhur stecke die katholische Kirche, die die Gemeinschaft immer schon in ein schlechtes Licht habe rücken wollen. Ich dachte, wie froh Macaco sein musste, dass nun ein Gast da war, der nicht für die katholische Kirche arbeitete.
Eines der wichtigsten Rituale fand bei Vollmond statt. Gäste durften daran nur nach einer Instruktion teilnehmen. Es war die Anrufung des Orakels. Dieses Orakel betrachteten die Damanhurianer als eine Ansammlung göttlicher Kräfte.
Mit den göttlichen Kräften kommunizierte man schriftlich. Man stellte seine Frage in einem Brief, dem ein aktuelles Foto und die biografischen Daten des Ratsuchenden beizulegen waren. Der Brief war in einem Kuvert an das »Orakel von Damanhur« zu adressieren und dann bei Frau Gazza Solidago im Welcome Center abzugeben. Nach einem oder zwei Monaten antworteten die göttlichen Kräfte.
Dahinter verbarg sich eine Delegation von Damanhurianern, sozusagen die Arbeitsgemeinschaft Orakel. Während der Vollmondzeremonie, glaubten die Damanhurianer, öffnete sich über dem (ohnehin schon offenen) Tempel ein Fenster göttlichen Lichts, das jedem Einzelnen seinen Weg der Menschlichkeit wies. Das Ritual wurde von Priesterinnen zelebriert, den Pythies. Die Zeremonie begann, so beschrieben es die Leute, mit Feueropfern an das Göttliche. Jeder Bürger konnte auch eigene Opfer darbringen. Zuletzt traten die Könige ans Feuer, die spirituellen Führer der Gemeinschaft. Die Priesterinnen trugen silberne Kapuzengewänder, die symbolisieren sollten, dass sie mit den Kräften des Mondes in Kontakt standen, und verlasen ein Gebet, bevor schlussendlich das Orakel selbst zu Wort kam.
Macaco ging vom Tempel weiter zum Wald des Bewusstseins, einem den Naturgeistern gewidmeten Erdenfleck, ich folgte. Der Wald war abgezäunt, viele kleine Tonfiguren schauten aus dem Moos durch Zweige und Gestrüpp heraus. Diese Figuren standen hierzulande überall. Sie waren
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