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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Grossarth
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waren mit Holzmosaiken verziert.
    »Es gehört zu unserem Experiment, hier oben so lang wie möglich ohne Kontakt mit dem Boden zu leben«, sagte Eidechse, die gerade auf einer Baumhausterrasse stand und mit einer Avocadopflanze experimentierte. Eidechse lebte hier. »Wenn du hier oben bist, gehen deine Gedanken von den üblichen Mustern weg.« Auf der Terrasse sang piepsend der Avocadobaum. Das konnte er, weil Eidechse ihn mit elektrischen Sensoren an eine Pflanzen-Singmaschine angeschlossen hatte. Pflanzen, hieß es, seien intelligente Wesen. Ein vierjähriges Mädchen war hier oben geboren worden und lebte immer noch in der Baumhauskolonie. Wird sicher mal was Großes draus.
    Ich dachte über einen damanhurianischen Namen für mich nach. Ich mochte Fische. Esox, der Hecht? Cyprinadus, der Karpfen? Und der Spargel war eine leckere Pflanze: Esox Asparagus. Der Name klang mächtig. Esox Cyprian Asparagus, sechsundsechzigster König von Damanhur.
    Das Werk Wahnsinn und Gesellschaft war immer noch meine Reiselektüre. Foucault teilte mir darin manchmal Sätze aus dem Jenseits mit, als habe er dieses Buch als meinen Reiseführer geschrieben:
    Die Zuneigung zu sich selbst ist das erste Zeichen des Wahnsinns, aber eben, weil der Mensch sich selbst zugetan ist, akzeptiert er den Irrtum als Wahrheit, die Lüge als Wirklichkeit, die Gewalt und die Hässlichkeit als Schönheit und Gerechtigkeit (…). In dieser imaginären Adhäsion an sich selbst lässt der Mensch seinen Wahnsinn wie ein Luftbild entstehen.
    Foucault schrieb mir weiter:
    Das Symbol des Wahnsinns wird künftig dieser Spiegel sein, der, ohne etwas Wirkliches wiederzugeben, heimlich für denjenigen, der sich darin betrachtet, den Traum seiner Voreingenommenheit spiegeln würde. Der Wahnsinn hat nicht so sehr mit der Wahrheit von der Welt zu tun als mit dem Menschen und der Wahrheit von ihm selbst, die er wahrzunehmen versteht. Er gibt also Einlass in ein völlig moralisches Universum.
    Ja, das war Damanhur.
    Am Tag vor meiner Abreise war der Vulkan immer noch aktiv, die Aufregung in Dendera stieg. Eine australische Ethnologin, die hier ein Jahr blieb, um das Zusammenleben des Stammes zu untersuchen und darüber ihre Doktorarbeit zu schreiben, erzählte, in Europa könne wegen der feinen Vulkanasche in der Luft kein Flugzeug mehr fliegen. Zehntausende Menschen säßen fest, den Volkswirtschaften gingen Milliarden verloren. Und als jener isländische Vulkan 1820 zum letzten Mal ausgebrochen sei, habe die Eruption ein Jahr gedauert. Ein Jahr ohne Flugverkehr – das wäre der K. o. für die Weltwirtschaft. Der Handel, der Tourismus, die Messen. Dendera ließ sich vom Schauer darüber ergreifen, wie verwundbar unsere moderne Welt war. In der Verunsicherung schien auch ein Hauch gewitterschwüler Gespanntheit auf die Zukunft nach dem Peak Oil mitzuschwingen. In einem Soziallabor wie diesem, in dem man ja einen Schritt weiter war, durfte man sich das vielleicht erlauben.
    Ich sah vieles, doch mir blieb auch vieles verborgen. Am späten Abend gingen einige Anwohner aus Dendera in den Tempel zum Neumondritual. Mich fragte niemand, das war wohl nichts für Besucher.
    An einem aschhimmligen Montagmorgen fuhr ich. Da fragte mich noch die dritte deutsche Frau, wie es mir in Damanhur gefallen habe. Ganz gut, nur der Tempel nicht so sehr, sagte ich, diese Form der Spiritualität habe mich nicht angesprochen. Soso, der Tempel habe mir also nicht gefallen, sagte sie und lachte. »Aber was heißt schon Spiritualität? Letztlich ist doch alles Spiritualität: backen, kochen, pflanzen.« Backen war also Spiritualität? Es schien schwer möglich, dass sich zwei Menschen überhaupt verstehen konnten, wenn ihre Begriffe von den Dingen so unterschiedlich waren. Mir fiel ein Zitat ein, das in der Speisekarte in dem Kölner Literaturcafé gestanden hatte, in dem ich mit Jörg Remus saß: »Es gibt keine Kriterien mehr, es gibt nur noch Geschwafel.«
    Jetzt freute ich mich auf die Schweiz, dieses Märchenland der Bürgerlichkeit. Damanhur war ein schwerer Traum. Eine Gemeinschaft von Individualisten, in der alle den gleichen Kunstgeschmack und eine ähnliche Weltsicht hatten, die die Flucht nach innen aus der Welt der religiösen oder bürgerlichen Dogmen, Konventionen und Karrieren angetreten hatten, mit ihrer esoterisierten Aufklärung aber an die Theosophen des neunzehnten Jahrhunderts erinnerten. Die Damanhurianer lebten abgeschieden, brachten ihren Kindern jedoch trotzdem Englisch

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