Vom Aussteigen und Ankommen
erzählte vom Landschaftsmaler Johann Georg Grimm, der 1846 hier am Alpsee in eine Handwerkerfamilie geboren wurde. Gegen den Willen seiner Familie ging er nach München, begann ein Studium an der Kunstakademie, was ihn so arm machte, dass er Brotreste gegessen haben soll, mit denen die anderen Kunststudenten ihre Skizzen verwischt hatten. Später studierte er in Berlin, wo er zu Fuß hinlief. Nach einigen Jahren bekam er in Brasilien einen Lehrstuhl, wurde ein bekannter Landschaftsmaler, doch später galt sein Stil als überholt, er ging ins Allgäu zurück und starb mit einundvierzig Jahren an Lungentuberkulose. Er hatte sich aufgezehrt in seinem Ehrgeiz, perfekt sein zu müssen. Wenn der Landschaftsmaler Johann Georg Grimm Brombeerpflücken und Kochen als Kunstformen akzeptiert hätte, hätte er sich den Besuch der Kunstakademie sparen können. In Damanhur hätte er Rieseninsekten an Hauswände malen können wie jeder andere, denn wer keine objektiven Kriterien akzeptierte, sparte sich so ein tragisches Ende. Andererseits wäre das Leben doch auch arm ohne Tragik.
In Füssen gab es Neuschwanstein, und in Füssen gab es einen keltischen Stamm, er nannte sich »Stamm der Likatier« – nach Menschen, die Jahrhunderte zuvor hier ansässig waren. Er wurde vor vielen Jahren von der Füssener Familie Wankmiller gegründet. Mittlerweile lebten die Wankmillers in dritter Generation in dem Stamm, aber er bestand nicht nur aus dieser einen Familie, sondern war für jeden offen. So traten immer wieder neue Leute bei, andere zogen weg. Die Neokelten besiedelten die Altstadt, sie hatten etwa hundertfünfzig Mitglieder. Sie verehrten die keltische Muttergöttin, Jesus Christus, Albert Einstein und König Ludwig II.
Auch dieser Stamm wurde häufig als Sekte beschrieben. Anders als in Damanhur, das sich von Katholiken verfolgt sah, waren hier die Protestanten besonders wachsam: »Eine Sekte bemächtigt sich der Stadt Füssen«, schrieb das evangelische Sonntagsblatt in dem Artikel »Der Jesus vom Forggensee«. Ich fragte mich, was das Sonntagsblatt gegen Jesus hatte.
Es schrieb von Polizeirazzien und Sexorgien und: »Im Laufe der Jahre ist der Wankmiller-Clan zu einer gewaltigen wirtschaftlichen Macht in Füssen geworden: Ihm gehören ein Reformhaus, Esoterik-Geschäfte wie das Mandala und das Quaballah, Verlage, die ›Bayerische Gesellschaft für ganzheitliches Heilen‹, eine Heilpraktikerschule, eine Lohnsteuerhilfe und ein Immobilienbüro.« Ich staunte, wie einfach man in Füssen zu einer gewaltigen wirtschaftlichen Macht werden konnte. Wolfgang Wankmiller wurde als ein widerlicher Rasputin beschrieben, doch ich interessierte mich nicht für ihn, sondern dafür, wie die Leute lebten, die dem Stamm beigetreten waren, und wer sich dafür interessierte, sich trotz dieser Berichte ausgerechnet den Likatiern anzuschließen.
Der Lech floss heute immer noch durchs Tal und trennte Stadt und Alpen. Füssens Altstadt war auf zwei Hügeln gewach sen wie eine Muschelkolonie. Die Stadt sah vom Klosterberg so aus, als sei sie im siebzehnten Jahrhundert mit Zuckerguss fixiert worden. Drei Gebäude ragten heraus: das Rathaus, das Schloss und das Franziskanerkloster. Die Kirche hatte einen un terproportional kurzen Hals und trug auf dem Kopf ein Zwiebelhütchen. Sie drehte sich von der Stadt weg. Das Rathaus hatte einen barocken Körper und einen langen Hals mit einer Ziegelmütze. Das Schloss hatte mehrere sehr unterschiedliche Köpfe, die von allen Seiten der Festung nach dem Feind aus schauten. Der Nachbar der Altstadt war ein fieser Fabrikschlot: ein Schaschlikspieß, der im Zuckerkuchen Füssen steckte.
Der höchste Rathausturm schien höher zu sein als der Klosterkirchturm, dafür war die Kirche von innen vergoldet und diente als Aufbewahrungsort der Reliquien der heiligen Crescentia von Kaufbeuren, die zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts Oberin eines Franziskanerinnenklosters war und 2001 heiliggesprochen wurde.
Ich ging eine Gasse hinab zum Gästehaus der Likatier. Die Spitalgasse wand sich wie ein Aal, der den Lech sucht. Dieser Aal hatte im Gegensatz zum echten Aal Schuppen, Kopfsteinpflaster. Vom Aal zweigte die Floßergasse ab, von der aus die Füssener Flößerei bis 1870 Warentransporte organisierte.
Hier war der Stammessitz. Ein Verkehrsschild wies auf spielende Kinder hin, doch das wäre nicht nötig gewesen, denn man sah die spielenden Kinder eher als das Schild. Es waren deren viele. Die meisten hatten lange
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