Vom Aussteigen und Ankommen
und Chinesisch bei, damit sie gute Weltbürger werden konnten. Skurril und randständig wirkte Damanhur von außen, doch eigentlich war es ein Zukunftslabor einer verunsicherten Gesellschaft. Ich wollte an den Rand der bürgerlichen Welt reisen und war in ihr Allerheiligstes vorgedrungen.
Was die Sache mit den Tiernamen sollte, blieb ein Rätsel.
Nachdem ich Damanhur verlassen hatte, telefonierte ich noch einmal mit den Kölner Mönchen. »Sie verehren Horus?«, fragte Nicolas-Marie und zeigte sich beeindruckt von der Idee, sechsundsechzig Euro Eintritt für eine Tempelbesichtigung zu nehmen. Das könnten sie sich auch für Groß Sankt Martin überlegen. Und er erzählte, wie die Schwestern den Vulkanausbruch erlebt hätten. Als die Asche den Flugverkehr lahmlegte, mussten sie zu einer Neugründung des Ordens nach Warschau reisen. Der Flug wurde annulliert. Die Schwestern seien dann einfach mit dem Zug gefahren. Dass die Zivilisation untergehen werde, daran habe im Kloster niemand gedacht, auch wenn die Anhänger dieser Weltsicht apokalyptischen Zukunftsbildern ja grundsätzlich nicht abgeneigt sind.
Ascona: Aussteiger um 1900
Auf halbem Weg vom Piemont ins Allgäu, im Tessin, hielt ich kurz in Ascona. Der Lago Maggiore leuchtete blau, und sein Blau spiegelte sich im Himmel. Die Gärten gaben sich mediterran. In Beton erstarrt standen die Häuser der Reichen am Hang. Sie hatten jeden Meter von Ascona besetzt. Ein Fußweg führte hinauf auf den Monte Verità. Oben gingen vereinzelt Touristen und an ihren Namensschildern zu erkennende Teilnehmer eines Maschinenbaukongresses. Vom Berg sah man alles: Himmel und Erde, Wasser und Sonne. Der Berg der Wahrheit, umgeben von Wasser und Weinbergen.
Von 1900 bis 1920 war hier eine vegetarische Naturkolonie angesiedelt. Anarchistische Wahrheitssucher aus der ganzen Welt lebten in Holzhütten. Eine davon war bis heute übrig geblieben, darin war ein Museum. Dort konnte man erfahren, wie unbürgerlich die Lebensreformer hier lebten: frei, nackt, vegan, ästhetizistisch, romantisch. Und dass der Gründer der Jugendstilgemeinde, der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven, dann nach Brasilien weiterzog.
Mit ihm und einigen anderen Leuten hatte die Frauenrechtlerin und Pianistin Ida Hofmann die Gemeinschaft gegründet. Fünfzig bis hundert Deutsche sollen um 1905 unter den tausend Einwohnern von Ascona gelebt haben, ein Sammelsurium von Sonderlingen bürgerlicher Herkunft. Es gibt mehrere Berichte vom Leben auf dem Monte Verità. Hedwig Hoffmann-Stier, die Witwe des Architekten der Kommune, erinnerte sich 1959 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , und der anarchistische Satiriker Erich Mühsam, der das Leben in dieser Kommune als Selbstversuch ausprobiert hatte, hinterließ mehrere Berichte. Die Lebensformen der Aussteiger im Fin de Siècle waren, passend zur Zeit, exzentrischer als heute.
Die Frauen, darunter besonders viele junge Berlinerinnen, trugen bunte Fantasiegewänder, Männer Leinenumhänge, manche gar nichts. Ein einfacher Holzblock im Freien war die Toilette. Sie tanzten nackt am Seeufer. Die Mitbegründerin Ida Hofmann warnte ihre Mitbewohner in Flugblättern davor, bloß nicht die Wäsche zu bügeln, da das eine Zeitverschwendung sei. Die Gemeinschaft war reich an verhaltensauffälligen und interessanten Persönlichkeiten.
Ein Kurgast sah die Ursache allen Übels im Salzgenuss. Er trug immer ein gelbes Stirnband mit der Aufschrift: »Pour sauver le monde, il faut laisser le zèle.« – »Um die Welt zu retten, soll man vom Salz die Finger lassen.«
Ein älterer Mann aß keine Trauben, da sie seiner Ansicht nach dem Wein und damit dem dionysischen Rausch feinstofflich zu nahe standen.
Erzherzog Leopold Wölffling war aus strengem Wiener Elternhaus geflüchtet, um in Ascona seine Freiheit zu finden.
Der seinen eigenen Namen stets kleinschreibende Lebensreformaktivist »gustav nagel« trug eine lange Haarmähne und niemals Schuhe, selbst wenn er aus Norddeutschland nach Ascona wanderte.
Arthur Gräser nannte sich selbst nur Arthur Gras, da er »doch nur einer sei«. Er war Maler und lehnte konsequent jede Benutzung von Geld ab. Mit seiner Frau hatte er ein Adoptivsöhnchen, sie nannten ihn Habakuk. Habakuk wurde nicht erzogen und von seinen Eltern jederzeit völlig ernst genommen. (Sonst hatte in der gesamten Kommune nur ein anderes Paar noch ein Kind.)
Freiherr von Schmitz, Herausgeber der Zeitschrift Der freie Christ , gab sich in der
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