Vom Aussteigen und Ankommen
»Landgewinnung«, sagte Silvio und schaute dem Steine tragenden Knecht dabei zu. »Einige gönnen sich halt Zigaretten und Alkohol, und ich gönne mir ab und zu mal den Thomas, der schwere Sachen macht. Herrlich!«
Silvio führte mich durch die Kellergewölbe. Das Pfarrhaus war bis vor wenigen Jahren noch vom Dorfpfarrer bewohnt gewesen. Die Keller- und Erdgeschossräume rochen nach Steingruft, altem Holz, feuchtem Basaltgestein und Rauch, über den Boden lief eine Maus, unter den Decken flogen Schwalben, eine Holztreppe führte wieder hinauf in die Wohnräume. Im Treppenhaus lag ein Liederbuch der thüringischen Landeskirche von 1966, ein Erinnerungsstück an die jahrhundertelange Vergangenheit des Gehöfts.
Die evangelische Kirche war in Döhlen eine mächtige Großgrundbesitzerin gewesen, und sie beschäftigte hier am Pfarrgehöft Landarbeiter, die in den aus Lehm und Stroh gebauten Gesindekammern lebten. Im zwanzigsten Jahrhundert fuhr die Kirche ihr landwirtschaftliches Engagement zurück und konzentrierte sich auf die Verkündigung. Auf dem Pfarrgehöft gab es ein Bild aus der Zeit des Nationalsozialismus, auf dem das Konfirmandenzimmer zu sehen war mit zwei Porträtgemälden an der Wand: Adolf Hitler und Martin Luther.
Zweieinhalb Jahre zuvor hatte Silvio den Hof für achtzigtausend Euro von der Kirche gekauft. Als der Anruf kam, dass das Haus, für das sich Silvio schon länger interessiert hatte, zum Verkauf stünde, waren Catrin und Silvio gerade in Paris. Sie wollten nach Südspanien oder Marokko auswandern, doch der Bus, in dem sie unterwegs waren, passte nicht unter den französischen Brücken durch. Sie bekamen also den Anruf von der Landeskirche, ließen den Bus zurück und kehrten um. Auch ein Huskyzüchter und eine von Arbeitslosenhilfe lebende Groß familie wollten den Pfarrhof erwerben, doch Catrin und Silvio bekamen ihn und mussten auf Wunsch der Kirche noch zusichern, in dem Gebäude keinen Swingerclub und kein NPD-Zentrum einzurichten.
Arbeiten konnte Silvio da schon nicht mehr. Er hatte einen guten Beamtenposten als Polizist gehabt, musste sich aber wegen seiner Krankheiten frühpensionieren lassen. Ihm war auf der Arbeit häufiger schwarz vor Augen geworden, er wurde dann erst vom Außendienst ins Büro versetzt und konnte dort die Augen kaum offen halten, so müde war er. »Schlaf doch mal«, hatten ihm seine Kollegen geraten, doch er konnte ja kaum noch schlafen.
An den nächsten Abenden brannten im Wohnzimmer Glühbirnen statt Kerzen, und es gab Aufschnitt vom Metzger und Supermarktkäse. Auf dem Tisch stand ein »Tetra Pak« mit Apfelmus. »Es schmeckt leider besser als unseres«, sagte Catrin.
Sie wollten aus dem Mittelalter kein Dogma machen. Heute kauften sie auch noch Kleider von der Firma Leonardo Carbone, einem größeren Hersteller von alter Kleidung, der in Teilen der Mittelalterszene verpönt war, weil alles nicht authentisch genug sei.
»Irgendwann wollen wir unsere Kleider nur noch selber machen«, sagte Silvio. »Auch die Schuhe. Aber nicht nur Schnabelschuhe, auch normale.«
Noch nutzten sie Eimer aus Plastik und grüne Gießkannen vom Baumarkt, doch nach und nach rüsteten sie auf Holzeimer mit schmiedeeisernen Griffen um. Gerade suchte Silvio bei eBay nach alten Eichenfässern von Winzern. Solche Gefäße waren nicht einfach zu finden. Aber der Hauptgrund dafür, dass die Umrüstung dauerte, lag darin, dass sie sehr teuer war. Silvio sprach von kaum einem Thema lieber als von der Zukunft, die immer mehr wie eine Vergangenheit sein sollte, welche er selbst nur aus Büchern kannte, die von Autoren geschrieben waren, die wiederum diese Vergangenheit selbst nur aus Büchern kannten.
Die Wohnung, in der früher der Pfarrer lebte, war nicht mehr pietistisch karg, sondern derb mit Massivholz und rotbraunen Kacheln eingerichtet. In der Küche hingen an Ketten aufgezogen getrocknete Pilze, Knoblauch, Chili, Blüten, Würste, Räucherkäse. In seinem früheren Leben hatte Silvio Roßberg fast nur mit Fertigzutaten gekocht. Im Wohnzimmer, der alten Bibliothek, stand in einer Ecke die Uniform eines schwarzen Ritters. Die Ritterrüstung hatte ein spitzes Nasenteil wie ein Schnabel, in einem James-Bond-Film wäre darin der feindliche Agent versteckt gewesen, bald würde er sich drehen und schießen. Über dem Kamin hingen gekreuzte Schwerter.
Silvio Roßberg, siebenundvierzig, hatte eine Lehre zum Forstwirt gemacht, fand die Monokulturen im Großforst unerträglich, ging nach
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