Vom Aussteigen und Ankommen
sie immer weiter zurückreisen in ihre inneren Verletzungen, die sie so zu heilen gedachten. Sie wollten ihr Leben wohl der Schmerzerkennung und -bewältigung widmen. Sie unternahmen für sich und mit anderen Menschen innere Reisen in die Kindheit, ins Säuglingsstadium, in die Embryonalphase, in frühere Leben. Wer dies mitmache, erinnere sich konkret an die Situationen und an die Schmerzen, sagte er : »Daran, wie der Vater seinem Sohn im Popo gebohrt habe, daran, wie die hassende Mutter den Säugling im Kissen ersticken wollte, an den schmerzhaften Ultraschall im Mutterbauch.« ( Sie und er glaubten, Ultraschall bereite Kindern unglaubliche Schmerzen und könne sie sogar töten, und dies komme aus Amerika, und das sei auch im Internet nachzulesen.)
»Schmerz lindern«, »Leid lindern«, »Hysterie lindern«, sagte er wiederholt. Als ich fragte, was er mit »Hysterie« meine, stieß sie völlig unvermittelt einen schrillen Schrei aus. Ich zuckte zusammen; es war wohl schlimmer als ein Ultraschall, und ich hielt es für einen guten Plan, dass die beiden ihre Hysterie lindern wollten. Ich fühlte mich in dieser Dreierrunde immer beklemmter, schnitt eine Scheibe Avocado ab, lutschte sie und blickte auf mein hölzernes Essbrett, derweil er mir alle paar Minuten mit tiefem Blick in die Augen mitteilte, ich wirke sehr beklemmt, woraufhin ich mich noch beklemmter fühlte. Mein Zahn schmerzte. Er sagte, er suche eine Gemeinschaft zum Toben, Lieben, Streiten, eine Gemeinschaft von Menschen, die ihre innersten Verletzungen gemeinsam erkennen und aufarbeiten. Und das nicht »Psychose« nannten, sondern es zuließen und sich heranwagten an ihre Wunden, um sie versorgen zu können. (So ungefähr hatte es Foucault auch geschrieben, und theoretisch leuchtete mir ein, dass man die anderen nicht zu schnell wahnsinnig nennen sollte, aber jetzt wäre ich gern einfach gegangen.)
Dann, wenn die Wunden geöffnet seien und versorgt würden, sei wieder Leben möglich, spontan, wild, intuitiv, wie die Kinder. Sie strahlte ihn voller Bewunderung an. Sie tat mir leid. So eine Reise in die bodenlose Tiefe der Innerlichkeit, die totale Subjektivität, die Realität des Traums konnte nicht gut enden. Vor der Leere der bürgerlichen Angepasstheit zu fliehen, vor »Nietzsches koketten Wanzen, die so lange nach dem Unendlichen riechen, bis das Unendliche nach Wanzen riecht« (Ernst Bloch), war respektabel, aber alle Fesseln der Vernunft abzulegen schien mir nicht als ein attraktiver Weg.
»Ach ja: Hast du schon mal ’ne Ameise gegessen?«, fragte er mich plötzlich und fixierte die Tischplatte.
»Nein.«
Er tippte mit seiner benässten Zeigefingerkuppe auf eine Ameise, die in Richtung Kuchen krabbelte, las sie auf und steckte sie sich in den Mund. Er kreiste den Unterkiefer, schaute konzentriert und schluckte. »Schmeckt säuerlich, nach Zitrone.« Draußen im Wald, sagte er , habe er auch schon mal Ameisen gegessen, die süß geschmeckt hätten, vom Harz.
»Na klar, süß vom Harz«, sagte ich und fühlte mich noch beklommener. Ich wirke immer noch beklemmt, aber jetzt habe er gesehen, dass ich innerlich mitgelacht habe, sagte er in seiner aufmerksamen Aufdringlichkeit.
Bald würde ich einen Bandscheibenvorfall erleiden, sagte er weiter, denn ich machte mich immer zu klein. Ich hätte mir eine freundliche Maske aufgesetzt, doch im Inneren sei ich böse und verstockt, denn ich würde meine Verletzungen nicht kennen. Ich hätte übrigens während des Gesprächs aus diesem Grund kalte Hände und Füße gehabt (das hatte ich zwischendurch erwähnt). Mein Körper, sagte er , durchblute nicht bis in die Spitzen, weil ich mich für so klein halte.
Als wir unsere E-Mail-Adressen austauschten, fragte er seine Freundin nach der Schreibweise ihres Namens. Er hielt in der einen Hand einen Kugelschreiber und in der anderen einen Zettel und starrte lange auf diesen. Er schrieb langsam, Buchstabe für Buchstabe. Er wusste nicht, wie man das @ schreibt, und kritzelte stattdessen irgendwas Seltsames hin. Er stockte lang, nachdem er das @ improvisiert hatte.
»Mann, ist das schwer, zwischen den Sphären umzuschalten«, sagte er .
» Er ist zu achtzig Prozent Seelenmensch«, sagte sie .
»Danke, auf Wiedersehen«, sagte ich.
Ich fühlte mich zwei Köpfe kleiner als vor dem Gespräch und wunderte mich nicht darüber, dass sich Silvio, Catrin und dieses Pärchen nicht lang verstanden, wunderte mich aber darüber, dass sie sich überhaupt mal verstanden
Weitere Kostenlose Bücher