Vom Aussteigen und Ankommen
waren, aber erst in ihren Vierzigern, standen am Anfang ihrer Zeitreise.
Am ersten Abend brannten Kerzenleuchter an den Wänden des Treppenhauses, es gab Spiegeleier von eigenen Hühnern. (Warum servierte man mir ständig Hühnereier?)
Silvio erzählte seine Krankengeschichte. Darum hielt er seinen Hals so gerade: Vor sechs Jahren hatte er sich ein Quad gekauft, als er es vom Händler nach Hause fuhr, hatte er einen Unfall, das Quad überschlug sich mehrfach. Auf dem Röntgenbild sah der Arzt einen Halswirbelbruch und mehrere schlecht verheilte Halsverletzungen aus alten Zeiten: Als junger Förster in der DDR war ihm mal eine Kiefer auf den Kopf gefallen, beim Judo hatte ihn ein Ringer mit dem Kopf auf den Boden fallen lassen, beim Trucktrial, dem Sport, den er nach der Wende machte, hatte er sich mit seinem Tatra 8-13 mehrfach überschlagen. Jetzt hatte er zwei gebrochene und verknorpelt zusammengewachsene Halswirbel, zwei schiefstehende, was zu einer sogenannten Verengung des Spinalkanals geführt hatte. Seine Adern und Nervenstränge waren also am Hals eingeklemmt, sodass er bei hohem Blutdruck, etwa durch körperliche Belastung, starke Kopfschmerzen bekam. Er konnte kaum drei Stunden schlafen in der Nacht, denn wenn er schlief, weckte ihn der Kopfschmerz. Am Esstisch zuckte er oft zusammen, hielt sich die Schläfe und kniff die Augen zusammen.
Leider war auch sein Herz nicht mehr gesund. In der DDR war er in seiner Jugend im Verein BSG Mast Mehla Hobby- Bodybuilder gewesen, der Verein hieß wirklich Mast. Er kaufte Eiweißkonzentrat vom Fischladen aus Gera und ließ sich leider auch das Anabolikum »Oral-Turinabol« verschreiben; davon ist ihm eine Herzrhythmusstörung geblieben. Er steckte nun in einer Zwickmühle: Für sein Herz war es wichtig, dass er sich körperlich viel bewegte, doch bewegte er sich zu viel, kamen die Kopfschmerzen. Handwerkliche und leichte Landarbeit, wie er sie seit mehr als einem Jahr hier tat, schienen daher angebracht. Er war wie Sisyphus zu ewiger Quirligkeit verdammt.
Auf dem Hof lebte auch ein Heilpraktikerpärchen, das seit einiger Zeit auf spiritueller Suchreise war. Sie hatten hier fest einziehen und mit Catrin und Silvio zusammen in Gemeinschaft leben wollen. Erst verstanden sich die vier prächtig, doch immer mehr stellte sich heraus, dass die Vorstellungen von der gemeinsamen Zukunft zu unterschiedlich waren. Der Mann des anderen Pärchens bestand auf Frauentausch und freier Liebe. Jetzt mussten sie bald wieder ausziehen. Für übermorgen luden mich die beiden zum Brunch ein.
Noch pflügt der Jeep, bald der Ochse
Um halb sechs, wenn der Rasen noch nass war, begann Silvios Tag. Früh am Morgen fütterte er die Hühner. Eine Gans war gebissen worden, es kamen Ratten in den Stall, Silvio stopfte Ritzen in der Wand mit Beton. Er ließ die Tiere aus ihren Ställen und fütterte sie: Gras- und Löwenzahnbüschel sowie Heu für die Kaninchen, Grasberge für die Wollschweine, die die Hälfte des Futters gleich wieder in den Schlamm trampelten, Hafer und Wasser für die Gänse, Weizen für die Hühner, die fünf Tage gebraucht hatten, um den leicht erkennbaren Weg über ihre neue Hühnertreppe hinaus aus dem Stall ins Freigehege zu finden. Die beiden Zwergschafe, Mutter und Sohn, mussten sich ihr Gras selbst suchen. Silvio ließ sie aus ihrem kleinen Stall heraus.
»Morgen«, sagte er zu ihnen.
»Mäh«, sagten die Zwergschafe.
Er hatte sich die Tiere nach ihrer Mittelaltertauglichkeit ausgesucht: kleine, alte Rassen, nichts Hochgezüchtetes oder Genmanipuliertes. Diese Kleinviehwirtschaft war ökonomisch unvernünftig, das Futter für die vier Schweine kostete rund achtzig Euro für einen Winter, genauso viel wie ein fettes Schwein. Eine Getreidetonne kostete beim Nachbarn acht Euro, drei dieser Tonnen genügten dem Geflügel für ein ganzes Jahr. Das Getreide selbst anzubauen wäre grob unvernünftig gewesen, Silvio müsste dafür Wochen arbeiten, aber vielleicht würde er es eines Tages machen. Im Winter brauchte Silvio die meiste Zeit dafür, Holz zu zerhacken und zu heizen.
Der Umzug ins Mittelalter ging langsam voran. Den letzten Pflug des Kartoffelackers hatte Silvio mit einem alten Wendepflug gemacht, ihn jedoch nicht hinter ein Zugtier, sondern hinter seinen Geländewagen gespannt.
Am Bachufer schleppte ein Arbeitshelfer Steine von einem Ort zum anderen. Es war Thomas, den Silvio als »meinen Knecht« vorstellte, ein alter Freund aus gemeinsamen Motorsportzeiten.
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