Vom Aussteigen und Ankommen
Dorf, um sie herum standen Marmorgrabsteine wie Felsrelikte von der letzten Eiszeit, ohne Wege und erkennbare Ordnung. Die Höfe waren aus DDR-Beton oder aus Fachwerk, einige hatten Schieferdächer, andere waren ganz mit Schiefer verhüllt. Die Straßen hatten keine Namen.
Das Mittelalter-Gehöft war das wohl älteste Haus im Ort. Auf einem Schild stand über der schwarzen hölzernen Eingangspforte »Gut Erdenpfad«, darunter die Warnung vor dem Hunde. Wir traten ein, und ein Bullterrier-Mischling trat vor uns. Als er aufhörte zu bellen, zwitscherten nur noch die Meisen und Schwalben, und unten rauschte leise der Bach.
Jetzt sah man das Gehöft. Drei Gebäude umrahmten den grasbewachsenen Innenhof: Wohnhaus, Scheune, Gesindehaus. Auf der unteren Hangseite war ein Hühnerfreigehege. Darunter lief der Bach, und ein Hektar Land drumherum gehörte zum Gut. Der Hahn krähte, obwohl es Nachmittag war. Vor dem Pfarrhaus stand eine alte Gurkenmagnolie, die fast so hoch war wie das Haus selbst. Ihre Äste waren geschwungen wie arabische Schriftzeichen.
Wein rankte die Hausfassade hinauf. Es roch nach gemähtem Gras und feuchter Wäsche. Im Innenhof stand ein alter, windschiefer Pferdefutterwagen auf Holzrädern, der so klapprig aussah, dass er jeden Moment einstürzen musste. Hätte man einen Zugochsen vorgespannt und wäre er losgelaufen, wäre aus dem Wagen ein Mikadospiel geworden. An den Hauswänden standen weitere Sammelstücke aus vorindustrieller Zeit: Geräte zum Pflügen, Jäten, Säen, alle riefen danach, sich in die Erde bohren zu dürfen und wieder von Ochsen oder Menschen gezogen zu werden. Sie standen da wie eine museale Erinnerung an harte Zeiten, aber auch wie eine Androhung von deren Wiederkehr. Räder, Ketten, überzogen vom Rost. Pflüge, Eichenbalken, Mühlsteine, Balken, Tröge und leere Truhen voller Geheimnisse, schmiedeeisern und archaisch. Silvio Roßberg hatte sie bei eBay gekauft. Seine neuesten Käufe wollte er bald wieder nutzen: eine Dickmilchzentrifuge und eine Dippelmaschine – Geräte, auf deren Namen in Kreuzworträtseln niemand mehr käme.
Speck ist tot, Schinken lebt
Silvio, ein Name, der in Thüringen nicht so selten ist, bedeutet im Italienischen so viel wie »Waldmensch«. Das war Silvio nicht, aber er sah so aus. Er hielt seinen Rücken und Hals auffällig gerade. Am Hals und oberhalb der Hände schauten Tätowierungen aus seinem Hemd heraus.
Er hatte vor, Schritt für Schritt in die vorindustrielle Zeit zurückzukehren. In einigen Jahren wollte er fast alle Nahrung, die er und seine Frau Catrin brauchten, selbst produzieren, nur noch mittelalterliche Kleidung tragen, alte Tierrassen halten, kaum noch Strom und Öl verbrauchen. Das Wasser kam schon aus dem Berg. Die Quelle hatte so hohen Druck, dass dieser das Bergwasser ganz von allein durch die Wasserhähne heraufdrückte, ohne dass eine Pumpe nötig war. Andere Zukunftsprojekte verharrten noch im Stadium der Zeichnung: ein Kühlschrank, der nur von kühlem Quellwasser betrieben sein würde, und eine Freiluftbadewanne, die künftig unten am Bach stehen und im Winter mit Holz beheizt werden sollte. »Das Mittelalter wird immer schöngedacht, doch es war eine schwere, entbehrungsreiche und dunkle Zeit, niemand will da leben. Aber die Urigkeit und Naturverbundenheit, die waren gut«, sagte Silvio Roßberg.
Die Gebäude baute er mehr und mehr zurück, damit sie wie aus einer seit Jahrhunderten vergangenen Zeit aussahen. Gras mit der Sense mähen, auf Kompostklos und eine Biokläranlage umstellen: das volle Programm. Aber andererseits wollten sie auch nicht ganz mittelalterlich leben. Ihre Kleidung im Bach waschen etwa, das müsse nicht sein, sagte Silvio. Und von Freiluftbadewannen im Mittelalter hatte auch noch kein Historiker geschrieben.
Erst vor wenigen Tagen hatte der gebürtige Stadtmensch Silvio sein erstes Schwein geschlachtet. Es hieß Speck. Dessen Brüderchen Schinken lebte noch. Es würde im Herbst an der Reihe sein. Das Fell des toten Wollschweinferkels hing zum Trocknen in der Sonne.
Es war Silvio Roßberg nicht leichtgefallen, vor Speck und Schinken zu treten und eines auszuwählen. Beide quiekten und bekamen ihr Grasfutter. Silvio packte Speck, weil es schlechter wuchs, oben am Fenster stand Catrin in der Küche und hörte Specks letzes Quieken, das dumpfe Pong des Bolzenschussgeräts. Ihr wurde übel, so wie es manchmal auch ist, wenn Städter die Natur entdecken. Catrin und Silvio, die beide schon Großeltern
Weitere Kostenlose Bücher