Vom Aussteigen und Ankommen
der Kindererziehung ihrer Geschwister, weil ihr Vater vom Alkohol krank war. Jede Sommerferien besuchte sie ihre Urgroßeltern auf einem Bauernhof in Sachsen. Dort gab es Hasen, Enten, Bienen, einen Bach und eine Brücke. Einer ihrer Lehrer sagte früher mal zu ihr: »Lies das Manifest, doch lies auch die Bibel, aber sag niemandem, dass ich das gesagt habe.« Catrin las die Bibel, aber sie konnte keine Christin werden, wegen der unglaublichen Geschichten von der jungfräulichen Geburt und wegen der Inquisition, aber sie wurde auch keine Kommunistin. Als Catrin 2008 mit Silvio zum ersten Mal den Mittelalterhof betrat, glaubte sie den Ort gefunden zu haben, an dem sie alt werden mochte.
Der Anfang auf dem Hof war hart. Die beiden fuhren drei Lastwagenladungen Mist aus dem alten Pferdestall, viele Container Schutt und Müll aus dem Pfarrhaus. Silvio und Catrin waren anders ausgestiegen als Jörg Remus. Sie hatten ihre Wohnung nicht auf zwölf Quadratmeter verkleinert, sondern massiv vergrößert: Die drei Hofgebäude zusammen hatten rund tausend Quadratmeter Wohnfläche.
Vielleicht war der Ausstieg auf dem Mittelalterhof unvernünftig. Silvio war krank, und Catrin würde nicht viele Steine allein schleppen können. Kinder lebten keine mit ihnen auf dem Hof. Aber wichtiger als die Vernunft schien den beiden die Perspektive. In drei Jahren, zu seinem fünfzigsten Geburtstag, wollte Silvio alle Bauarbeiten erledigt haben und Landwirt sein dürfen.
Adam Smith, der Advokat der Arbeitsteilung, hätte diesen Hof einmal aus dem Jenseits besuchen müssen. Er hätte sehr gestaunt: Ein Ehepaar machte alle Arbeiten selbst, und es funktionierte. Vielleicht würde Smith seine positive Sicht der Arbeitsteilung im Jenseits revidieren wie Luther die Rechtfertigungslehre. Das Internet machte es einfach, Arbeiten selbst zu erledigen, die man früher nicht allein geschafft hätte. Ohne das Internet könnten Catrin und Silvio nicht ins Mittelalter zurückreisen; für alle Probleme gab es in den Foren Lösungen: Wie erkenne ich weibliches und männliches Entenküken? Wie baue ich einen Schafstall? Wie erkenne ich Schweinekrankheiten? Was tun nach dem Hochwasser? Wie repariere ich einen Ochsenpflug? Wie mache ich Holundermarmelade? Was tue ich, wenn im Pfarrhaus plötzlich eine Wand aufreißt? Improvisieren konnte Silvio zudem noch aus der DDR-Zeit sehr gut, in der es wenig Material gab, er nannte die Improvisation noch heute seine Stärke.
Meine Hände sind kalt, weil ich mich so klein fühle
Silvio suchte sich vor einigen Jahren neue Freunde, es waren Wahrsagerinnen, Bauchtänzerinnen und Ritter. Er fühlte sich in der Mittelalterszene wohl, auch weil sie ihn an seine Marokkoreisen erinnerte. Dort ist es ja wie bei uns vor fünfhundert Jahren, dachte er, als er durch die Altstädte von Fes oder Casablanca ging, und in Thüringen bekam er Fernweh nach dem Orient, nach dem Mittelalter.
Er erzählte von Marokko und geriet in leicht entrückte Begeisterung über Tröten, Trommeln, Gewürze, Muezzins. Ausgerechnet im protestantischen Pfarrhaus soll nun auch Thüringen fantastischer, archaischer, mystischer werden, wenn auch ohne Muezzin. Der kranke Waldmensch Silvio war vom Orient so begeistert wie die Künstler der Jahrhundertwende.
Am letzten Mittag, bevor ich abreiste, war ich bei dem anderen Pärchen eingeladen. Ich hatte den Termin vergessen, und die Frau des anderen Pärchens holte mich aus Silvios Ritterzimmer ab. Die beiden hatten einen Brunch vorbereitet. Ich merkte mir ihre Namen nicht, also nenne ich sie »er« und »sie« .
Die zwei hatten sich eines der vielen freien Zimmer zu einem Kuschelnest ausgebaut. Im Raum, der klein war wie ein Kinderzimmer, lagen zwei Matratzen. Der Tisch war mit Kuchen, Brot, Frischkäse, Avocado und Prosecco gedeckt. Er hatte Charisma, seine blauen Augen funkelten, sein Haar war braun und fast schulterlang. Er trug eine grüne Strickweste. Sie war achtundvierzig, sechs Jahre älter als er und frisch geschieden. Sie bezog Unterhalt von ihrem früheren Ehemann. Beide waren nicht mehr werktätig.
Sie erzählten mir von ihrem gemeinsamen inneren Weg, der seit einigen Monaten in Form einer Suche nach Gemeinschaft andauerte. Sie suchten eine spirituelle Lebensgemeinschaft, diese hier war ihnen aber nicht spirituell genug und auch zu wenig Gemeinschaft, bald würden sie weiterreisen mit ihrem Wohnmobil und weitere Gruppen kennenlernen. In der Gemeinschaft, so verstand ich seine Schilderungen, wollten
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