Vom Aussteigen und Ankommen
hatten. Bei den Hausherren war sicher der starke Wunsch nach Gemeinschaft die Ursache, nach Menschen, die ihren Weg ins Mittelalter mitgingen. Silvio entschied sich dann aber, die beiden darum zu bitten, nach einer neuen Gemeinschaft zu suchen, als er immer nachdrücklicher die Einführung der freien Liebe auf dem Pfarrgehöft Döhlen forderte, da ohne diese keine freie Reise zu den inneren Verletzungen möglich sei. Das wollten aber weder Silvio noch Catrin mitmachen. Und was mich anging: Entschuldigen Sie, Herr Foucault, auch ich hatte nach dieser Begegnung für den Moment wieder keine Lust mehr, mich für den Wahnsinn der anderen zu interessieren.
Die Gurkenmagnolie warf in der Abendsonne ihren Schatten auf die Sandsteinmauern des Gesindehofs. Der Schatten der geschwungenen Äste sah aus wie ein Scherenschnitt aus der Ju gendstilzeit, wie eine florale Träumerei. Schmale Haselnuss äste sprossen aus Baumstümpfen heraus wie Schlangen aus dem Hut eines Schlangenbeschwörers. Ein bisschen Orient war schon da.
Bevor ich weiter in Richtung Bayern reiste, sah ich das andere Pärchen über den Innenhof in Richtung Ausgangspforte gehen. Sie waren zu einem ritterlichen Geburtstagsfest eingeladen.
»Bis im nächsten Leben«, sagte er und guckte ernst zu mir herüber, »man sieht sich immer zweimal.«
Es klang wie eine Drohung. Silvio fuhr mich kurz darauf zum Bahnhof.
Heidelbeeren aus der Oberpfalz
I n der nördlichen Oberpfalz regnete es, und es war immer noch kalt wie im April, obwohl heute der Juni begann. Ich stieg in einem Dorf aus, das die Hoffnung auf den Sommer aufgegeben hatte, und neben dem Bahnhofsgebäude stand ein alter roter Audi. Darin saß ein Mann, der mit seiner schwarzen Lederjacke, schulterlangem Lockenhaar und Schnauzbart aussah wie Richard Les Holroyd von Barclay James Harvest. Ein zeitreisender Rockstar aus den siebziger Jahren. Er winkte mir kurz zu, es war mein nächster Patient. Dafür, dass er es war, sprach auch, dass die Buchstaben seines Autokennzeichens seinen Initialen entsprachen, aber ich sollte weder seinen richtigen Namen noch den seines Wohnorts nennen.
Ich stieg ins Auto, einen Audi 80, eine Zeitmaschine. Sie fuhr los, Baujahr sechsundachtzig, außen weinrot, innen beige. Im Auto roch es nach Leder und kaltem Rauch. Sitzbezüge und Armaturenbrett waren im Farbton von hellem Milchkaffee bezogen, auf der Rückbank lagen Lautsprecherboxen, im Handschuhfach eine offene Packung Schwarzer Krauser.
Frank zündete sich eine Selbstgedrehte an, und der Geruch von kaltem Rauch verwandelte sich in den von warmem. Das waren Reisegerüche aus der Kindheit: Audi 80, Zigarettenqualm. Frank kurbelte das Schiebedach auf. Wenn der Wagen über ein Schlagloch fuhr, setzte das linke Vorderrad hart auf, die Feder war gebrochen. Der Wagen war im Zerfall begriffen, sein Fahrer hingegen wirkte jugendlich.
Aber Frank wirkte reserviert. Er sprach kein Wort mehr als nötig. Er sah aus wie ein harter Rocker, aber seine Gesichtszüge waren weich, seine Lippen schmal wie die eines Mädchenmundes. Wir fuhren bei einer Konditorei vorbei, um Kuchen zu kaufen. Da wolle er nicht rein, ich solle gehen, das Publikum sei darin immer sehr bürgerlich, sagte Frank. Dabei war er mit dem Konditor selbst gut bekannt. Er gab ihm im Sommer Blaubeeren für seine Torten. Davon hatte er viele, denn Frank lebte von einem Heidelbeerfeld. Die Erntezeit dauerte wenige Wochen, doch das Geld, das er für die Beeren bekam, genügte ihm fürs ganze Jahr. Er wollte nur aus diesem Grund namentlich nicht genannt werden: damit die Nachfrage nach seinen Blaubeeren nicht noch größer werde. Denn schon jetzt konnte er kaum so viel liefern, wie bestellt wurde.
Mit zwei Stücken Marzipantorte auf der Fußmatte fuhren wir weiter. Nach ein paar Kilometern parkte die Zeitmaschine auf einem Graswall. Von hier aus blickte man weit über eine Ebene, weit hinten zeigte sich ein Bergkamm des Steinwalds als grauer Schatten.
Wir spazierten um einen Karpfenteich herum durchs feuchte Gras, Franks Lederstiefel ließen das Wasser abperlen. Dann gingen wir in sein Haus, das von der Straße zurückversetzt lag und sich hinter Büschen und Sträuchern versteckte. Es stand frei in der Landschaft und hatte den Anschluss zum Dorf fast verloren.
Im Untergeschoss hatte Franks Haus drei Zimmer, die kaum genutzt wurden. Sie waren eine verlassene Welt aus den fünfziger Jahren mit einem holzfarbenen Plastikfußboden, der sich wellig löste, und mit Decken, die
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