Vom Aussteigen und Ankommen
Küchentisch hing ein Holzkreuz, neben der Tür ein Weihwasserbecken, auf einem Eckbrett darüber standen Bronzefiguren und Heiligenkerzen. Dass Frank so spät zum Essen kam, schien normal zu sein. Emmi, eine runde kleine Frau um die siebzig, die die Mutter eines guten Freunds von Frank war, stand noch am Gasherd. Ihr jüngster Sohn, der vierzig war und anders als seine älteren Brüder immer noch bei seiner Mutter lebte, holte Apfelwein. Er brachte ihn in einer Kaffeekanne herein. Wir tranken den selbstgekelterten Apfelwein. Emmi brachte den Hecht, der einen Paprikamantel trug.
Das Land war reich an regionalen Kulturen: kulinarisch, architektonisch, sprachlich. In Deutschland fuhr man zwei Stunden und kam in einer in vielen Nuancen anderen Welt wieder an. Der Träger dieser Merkmale war wohl vor allem die ältere Generation. Die Konsumkultur bedrohte vermutlich die Artenvielfalt.
Emmis Sohn brachte selbstgebrannten Apfelschnaps. Seit seinem vierzigsten Geburtstag vor einigen Wochen, beklagte das Nesthäkchen, verspüre er unangenehmen Schleim im Hals. Der Apfelbrand helfe, sagte er und trank derer mehrere. Frank las den Neuen Tag , die Lokalzeitung. Immobilien-, Todes-, Aldi-Anzeigen. Das Nesthäkchen lallte. Die erzkatholische Mutter saß nun, nachdem sie den Hecht abgedeckt hatte, auch am Tisch. Sie blickte ihren Sohn streng an und sagte, er solle sein Trinken mäßigen. Frank hielt die Zeitung noch etwas höher. Eine große Spinne krabbelte über den Fliesenboden.
Die Mutter klagte in einem bayerischen Akzent, der kaum mehr zu verstehen war, darüber, wie sehr die Milchbauern wieder über den Milchpreisverfall klagten.
Frank nahm die Zeitung kurz herunter und sagte: »Die bauen ihre Ställe aus und aus, weil der Bauernverband sagt: ›Macht das, dafür gibt es Fördergeld‹, und dann haben sie die Ställe und die Rinder und viel zu viel Milch, das läuft völlig am Markt vorbei. Emmi, wieso sagst du wieder: ›… die armen Bauern‹?«
»Jo«, sagte die Mutter und lächelte mütterlich, doch mehr sagte sie nicht.
Ihr Sohn holte die vierte Kaffeekanne Apfelwein: »Letzts Joar wor er besser, is zu fui Zitrone dran.«
Frank drehte sich noch eine Zigarette und las weiter. Obwohl er keinen Zweifel daran ließ, dass ihm etwas an dieser Welt nicht gefiel, war er mehrmals in der Woche bei Emmi zum Essen. Die beiden schienen das typische Mutter-Sohn-Verhältnis aus den siebziger Jahren zueinander zu haben. Emmi bekochte ihn, er kam, um sich bekochen zu lassen und um provozierende Pfeilchen abzuschießen, die den zufriedenen katholischen Elefanten zum Wanken bringen sollten, aber die an der dicken Haut der Mutter abprallten.
Wir fuhren nachts um drei ungeheuer langsam über einen Waldweg nach Hause. Hier gab es keine Alkoholkontrollen, und es war die kürzeste Strecke. Ein Reh ging langsam über den Weg und blieb im Scheinwerferlicht einen Meter vor uns stehen.
»Ach, der schon wieder«, sagte Frank. »Ich kenne hier bereits jedes Tier.«
Um halb fünf gingen wir ins Bett, das war Franks normaler Rhythmus.
Um zwanzig vor eins frühstückten wir Kaffee, harte Semmeln von vorgestern, Blauschimmelkäse. Das Thermometer zeigte neun Grad an. Frank hatte Rachmaninows »Toteninsel« aufgelegt, apokalyptisch brummten die Geigen.
»Mein Verstärker ist ein Geschenk Gottes, der läuft seit 1970«, sagte er.
Bayern 5 sendete später den Börsenbericht: Credit Default Swaps von Italien weiter verteuert, Schuldenkrise spitzt sich zu, Dax verliert.
Frank sagte verschwörerisch: »Sehr volatil, sehr volatil.« Sein Geld hatte er als Altersvorsorge in Aktien gesteckt.
Bezahlen mit Blaubeeren
Franks Arbeitssaison begann im August und endete im September, dann musste auch er früh aufstehen und seinen Rhythmus an den seiner Kunden anpassen. In diesen Erntewochen war der Sonntag Pflücktag. Die Beeren hielten sich eine Woche lang. An den Wochentagen fuhr er um sechs Uhr morgens bis zum frühen Nachmittag mit seinem roten Audi die Beeren zu den Kunden. Beim Pflücken halfen ihm Bekannte und Nachbarn. Dafür bekamen sie Heidelbeeren. Und Frank half ihnen im Herbst bei der Karpfenernte oder beim Apfelmostmachen. In der Konditorei trocknete er die Heidelbeeren, die er nicht frisch verkaufen konnte, mit der Restwärme des Ofens. Dafür bekam der Bäcker Blaubeeren. Eine Schnapsbrennerei tauschte Blaubeerschnaps gegen Blaubeeren.
»Blaubeeren sind meine Währung«, sagte Frank.
Diese Ökonomie war eigentlich auch ein Tauschring
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