Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
Galerie verschmolzen vor meinen Augen zu einem einzigen, zu einem Menschen, dessen Lebensfilm ich plötzlich ablaufen sah, ich sah ihn von klein auf älter werden und alt, ich sah ihn in Hochgeschwindigkeit, ich sah ihn in Windeln, dann spielend im Sand und später in Diskos, in Wartehallen, im Schnee, ich sah ihn in Supermärkten und Toiletten stehen, über verlorene Banknachbarinnen weinen, Eis essen und Kaugummis kauen und erinnerte mich, irgendwo gelesen zu haben, daß das die Art war, wie Geister sahen. Geister sahen alles gleichzeitig. Für Geister war es schwer, in der Gegenwart zu bleiben, wo über allen Dingen eine Schicht unmittelbarer Realität lagerte, die diese Dinge andauernd verschob, veränderte und verzerrte, wo jeder Atemzug im nächsten schon Vergangenheit war.
Es war schwindelerregend.
|25| Meine Freundin winkte verwischt zu mir hoch.
»Jetzt mußte aba ma uffhörn, Mensch! Komma ma wieda runter. Dit gloobt ja sonst keena mehr. Mußte denn imma so übertreiben? Da solln doch keene Fledermausflügel draus werden. Oder hab ick dir etwa ne Überdosis verabreicht?«
»Überdosis?«
»Na ja, ick kann dir doch nich hängenlassen!«
Sie packte mich am Bein und zog mich zu sich herunter. Ohne Krach. Ohne spürbare Landung.
»Ick bin ja schließlich schuld, wa. Kann ja ooch keena ahnen, daßde ausjerechnet Jen nachschlägst. Hättste wenigstens Julklapp oder Jahrmarkt oder Judas erwischt –.« Sie machte ein Kunstpause. »Na ja«, sagte sie, als ich nicht lachte, »dann hättste dit sicher alleene texttechnisch irjendwie verarbeitet jekriegt. Aber so? Ick konnte dich doch nich total der Leere überlassen, der
Entropie
sozusagen. – Wat kiekste denn so? Dit ham wa beim Studium jelernt.«
»Ich denke, du warst an der Fachschule«, sagte ich nüchtern, ich hatte Boden unter den Füßen, ich sah wieder klar.
»Fach
hoch
schule. Erster Lehrsatz der Entropie: In der unbelebten Welt herrscht die natürliche Tendenz, sich auf einen Zustand immer größerer Unordnung hin zu bewegen. Normalerweise ist ein Zustand größerer Unordnung auch ein wahrscheinlicherer Zustand. Und dit wolln wa ja hier nich, oder?«
»Nee.«
»Dit wolln wa doch innem vernünftijen Text ma ausschließen. Da soll doch ne jewisse Ordnung herrschen.«
»Ja.«
»Siehste. Und deshalb iss dit Beruhijungsmittel ooch |26| schuld an deine Flügel. Jentechnisch manipuliert«, sagte sie. »Dit is unwahrscheinlich, aber jeordnet.«
Geordnet lag auch der Schnee in schmutzigen Haufen im Rinnstein.
Geordnet kamen wir vor meiner Haustür an. Geordnet waren wir nebeneinanderher gelaufen, womöglich im gleichen Gedankengang.
Ich öffnete die Tür. Sie klopfte sich Schneereste von den Schuhen, streifte sich die lilafarbenen Pulswärmer ab, ging in die Küche und setzte Glühwein auf. Ich fuhr den Computer hoch, dann dankte ich ihr.
Es ist schön, wenn jemand so praktische Einfälle hat.
Was mein Bruder zu Heiligabend auch sagen wird.
Von jetzt an fliege ich übers Papier.
|27| Eine Weihnachtsteufelei
Es gibt Menschen, die glauben, Weihnachten wäre unumgänglich.
Meine Freundin glaubt das nicht. Wir haben uns schon sehr darüber gestritten. Sie glaubt, daß man sich den Klingglöckchen und den wattebärtigen Studenten an jeder Ecke und in jedem Supermarkt entziehen kann.
Sie sagt immer: »Nu mach aba ma halblang.«
Sie sagt: »Wird allet nich so heiß jejessen wie it jekocht wird, ooch ene Jans nich.«
Sie hat eine herrliche Art, die Dinge auf den Kopf zu stellen. Auch Weihnachten. Am Telefon hat sie zu mir gesagt, wenn ich nicht glauben wolle, daß Weihnachten unbemerkt verstreichen könne, werde sie mir das eben beweisen, und hätte ich am Telefon schon gewußt, worauf ich mich einlasse, hätte ich auch dieses Jahr Weihnachten lieber wieder in der siebten Etage eines so übertrieben mit Lichterketten behängten Hauses verbracht, als wäre es allein für die Einflugschneise nach Tempelhof verantwortlich. Ich hätte mich mit einer schlaffen Großstadtweihnachtsgans begnügt und Kling Glöckchen gehört. Aber weil meine Freundin vom Dorf am Telefon so klang, wie meine Freundin am Telefon immer klingt, nämlich verheißungsvoll und voller Geheimnisse, kam es anders.
|28| Aber zuerst rief mein Vermieter an. Es war zwei Wochen vor dem Fest. Mein Vermieter hatte sich noch nie gemeldet. Es hieß, er lebe am Stadtrand, dort, wo der Grunewald in vierstöckige Villen hineinwächst, aber sicher war sich da niemand. Er meldete sich, als ich
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