Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
Tiefschlaf und träumte von Gänseäpfeln, Äpfeln, die man mit Gänsen geklont hatte.
Morgens hatte ich Rückenschmerzen. Es kam mir vor, als würden Züge meine Wirbelsäule hinauffahren, eiserne |17| Gestelle in Hochgeschwindigkeit. Später rief mein Bruder an. Er wollte wissen, wie weit ich gekommen war. Das war eine seiner Bedingungen: Er verlangte regelmäßig einen Zwischenbericht.
Denn angenommen, es ginge schief, hatte er gesagt, wie stünde er dann vor unseren Eltern da. Wie sähe er aus, falls ich versagte. Er hatte viel riskiert. Zuerst hatte er jahrelang daran gearbeitet, daß kein verkleideter Arbeitskollege unseres Vaters mehr für uns den Weihnachtsmann mimte (
Du hast ja immer fleißig mitgemimt
, hatte er mir vorgeworfen. –
Ich bin ja auch Schriftstellerin
. –
Ach
.) Dann hatte er lebende Weihnachtsbäume statt der gefällten eingeführt, die nach dem Fest in die getaute Frühlingserde umgetopft werden mußten, weshalb aus dem Garten meiner Eltern mittlerweile eine Schonung geworden war. Jetzt hatte er wegen der geplanten Lesung den Menüplan um eine Stunde verschieben müssen, und das hatte angesichts des ohnehin späten Essens am Heiligabend zu einer hitzigen Debatte geführt.
Ich sagte ihm am Telefon, ich hätte den ganzen Tag in der Bibliothek verbracht und Geo-Hefte durchgesehen. Es gab Schafe, die aussahen wie Ziegen, aber selbst, wenn man das Schaf als weihnachtliches Accessoire akzeptierte, zerstörte der Ziegenkopf am Gansleib die Stimmung. »Aber keine Sorge«, sagte ich, »ich nehme gerade ein Mittel, das mich beruhigt, und der Rest wird sich finden.«
Er war enttäuscht, was man hörte.
Abends wurden die Rückenschmerzen so stark, daß ich auf dem Bauch schlafen mußte. Ich schluckte meine zwei Eßlöffel Beruhigungslebertran, nahm Ibuprofen und wachte mitten in der Nacht von Bewegungen im oberen Halswirbelbereich auf. Es fühlte sich an, als wären jetzt Schwellenläufer auf den Schienen unterwegs, die jeden einzelnen Wirbel noch einmal fest anzogen.
|18| Ich versuchte, mich von hinten im Spiegel zu sehen. Wenn ich mich gerade so weit herumgedreht hatte, daß die schmerzende Stelle jeden Moment ins Blickfeld rücken mußte, gab es einen Knacks im Hals, eine Sperre, an der ich nicht vorbeikam. Ich zog eine weite Bluse an.
Ich fing an, überhaupt nur noch Weites zu tragen; riesige Tücher, ausgeleierte Pullover. Die Bewegungen im Halswirbelbereich wurden heftiger.
Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Sobald ich am Schreibtisch saß, fing es an, zu drücken und zu stechen. Wenn ich tastend die schmerzende Stelle erreichte, fühlte ich eine Beule, eine Schwellung, einen drahtigen Auswuchs.
Mein Bruder rief noch einmal an. Ich rieb meinen Rücken an jeder Kante, während ich mit ihm sprach, an jedem Türvorsprung, ich schubberte mich in Küche und Bad, an Fensterknäufen und Schrankecken. Mein kleiner Bruder schien noch kleiner geworden zu sein, er flüsterte am Telefon. Er sagte, er verlasse sich auf mich. Er wisse nicht, womit die Lücke im Weihnachtsprogramm sonst zu stopfen sei und vor allem, wie er die dadurch entstehende Unregelmäßigkeit unseren Eltern gegenüber vertreten solle. Selbst dem Auflegen hörte man seine Verzweiflung an.
Während die Zeit sinnlos verging, dachte ich an meine Freundin vom Dorf.
Sie kam nicht ursprünglich vom Dorf. Sie wechselte nur ständig ihren Wohnsitz. Sie zog so häufig um, daß ich nicht jedes einzelne Mal mitbekam. Im Moment wohnte sie weit draußen, nachdem sie zuvor ein Vierteljahr in Hellersdorf gelebt hatte und davor in Teltow und vor Teltow in Charlottenburg, und vielleicht veranstaltete sie dieses ganze Hin und Her nur, damit sie den Eindruck haben konnte, immer rechtzeitig gegangen zu sein.
Rechtzeitig zu gehen war ihr wichtig. Rechtzeitig zu gehen |19| bedeutete, mit der Zeit zu gehen, eine Zeit, in der alle kurz angebunden, knapp aufgelegt, flüchtig bekannt waren. Sie wußte, daß das Neue, solange es eine Herausforderung war, bewies, daß man existierte; der Mechanismus lief, die Muskeln spielten. Aber statt sich da der Menschen zu bedienen, wechselte sie lieber ihren Wohnsitz. Wobei sie in der Nähe ihrer Freunde blieb.
Ich konnte mich nicht erinnern, wie oder wann wir uns kennengelernt hatten. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, sie jemals nicht zur Freundin gehabt zu haben. Was auch daran lag, daß ich sie mir so immer gewünscht hatte.
Es gab ein Foto von mir als Achtjähriger. Das Mädchen im weißen
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