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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Herren mit gestutzten Backenbärten, eine Dame mit Diamantring, die dem Gatten noch etwas für das Bad schenken wollte, und ein Junge, Typ Bank-Azubi, bewegten. Der Junge traute sich nicht, nach den Preisen zu fragen, und strich um einen Engel herum, dessen Brüste sich deutlich von den mild fließenden Farben abhoben. Es gab jede Menge Engel. Gesichtslose Engel, Engel, die Sturzhelme trugen, Engel auf Plüsch, Engel auf gefurchten Wiesen und auf Plateauabsätzen im Straßenverkehr. Auch einige Engelklassiker waren darunter mit Trompete und Pausbacken. Im Hintergrund lief eine Roger-Whittaker-Weihnachts-CD.
    Im Warmen fing mein Rücken wieder stärker zu schmerzen an. Ich sagte meiner Freundin, es wäre vielleicht keine so gute Idee gewesen hierherzukommen, insgesamt.
    Sie lachte. Ihr machte das alles großen Spaß. Hier lief Geld herum. Hier lief gutes Material über teure Böden. Pelze, Kaschmir, Krokodilleder, Veuve Clicquot und La Mer, was sich auf trüffelgenährtem Fleisch zu einer Arroganz vereinigte, die meiner Freundin gefiel.
    Hier lief alles das herum, was es nicht gab. Was es nirgendwo gab. Nirgendwo jedenfalls in ihrem Leben.
    Hier fühlte sie ihre Muskeln spielen.
    Sie warf das graue Haar zurück und legte den Kopf vor jedem Bild fachmännisch in den Nacken. Sie war grau, seit ich sie kannte, mit einem silbrigen Schimmer, wenn sie unters Kerzenlicht oder unter eine der Sparlampen geriet, aber ihre jugendlich schmale Figur machte es schwer, ihr Alter zu schätzen, was die Leute verwirrte.
    Momentan wirkte sie etwas verloren. Sie sah wie ein Straßenköter unter Zierpudeln aus, und wahrscheinlich ging es ihr mit mir ähnlich.
    Durch meine Halswirbel raste ein ICE.
    |23| Ein Herr mit zerbrechlicher Brille erklärte, daß der Künstler über die Oper zu den Engeln gekommen sei. In der Oper hatten eines Tages die Engel ausgesehen wie auf Gemälden von Rubens, was dem Künstler mißfiel, und er begann, selbst welche zu malen. Das war jetzt dreiundzwanzig Jahre her, und er malte noch immer dasselbe.
    Ich dachte daran, aufs Klo zu gehen, um herauszufinden, was sich in meinem Rücken tat. Aber dann hätte ich mich durch den ganzen Raum und direkt am Redner vorbei drängeln müssen.
    »Engel«, sagte er, »sieht man ja nun in Wirklichkeit nicht. Was sollen wir also heute noch von ihnen halten? Dieser Künstler sagt es uns. Er sagt uns: Seien Sie unbesorgt, meine Damen, meine Herren«, er machte eine große Pause, »in jedem Leben gibt es einen Menschen, einen, der einem als Engel erscheint. Irgendwann ist er da, es braucht nur eine gewisse Aufmerksamkeit. Und wenn man ihm begegnet, empfindet man etwas Merkwürdiges. Etwas Einzigartiges. Davon weiß derjenige oft nichts, aber man selbst weiß es, und von diesem Moment an kann man beruhigt sein. Man hat in einem Menschen seinen Engel entdeckt.«
    Es war still. Es war eine Stille, hinter der fiebrig überlegt wurde, wer das im jeweils eigenen Leben denn war, und in diese Stille hinein riß meine Bluse im Rücken mittendurch. Es war ein langsames, gleichmäßiges Reißen, sehr laut, und die Gleichmäßigkeit ließ es aufreizend und durchdringend klingen, und schließlich schwenkten auch die ins schönste Fiebern versunkenen Köpfe zu mir herum. Es wurde gezischt und gezischelt, der Redner hüstelte kurz, dann hörte das auf. Ich fühlte, wie etwas in meinem Rücken wuchs, wie es sich aufwarf und weitete, es tat jetzt nicht mehr weh. Es hatte alle Freiheit und fühlte sich leicht an, geschmeidig. Die Augen, die sich auf mich gerichtet hatten, |24| kamen mir vor wie meine eigenen mit acht: riesig, staunend, erschrocken, aber vom Erschrecken gefesselt, fast wie im Wundstarrkrampf.
    Meine Freundin vom Dorf strahlte unter ihrem silbrig schimmernden Haar, und ich begriff, daß gerade etwas Ungewöhnliches passierte.
    Als ich mich von der Wand abstieß, um meine Schultern freizubekommen und irgendwie auch etwas zu sehen, hob es mich wenige Millimeter in die Luft.
    »Jut jemacht!« rief sie. »Prima! Siehste, und dit iss die janze Poente. Da läuft am Ende allet druff raus.«
    Ich schwebte. Meine Füße taumelten durch die Luft, ich stieg höher, und die Menschen sahen von unten her zu mir hoch. Je höher ich kam, desto blasser wurden die Körper, Veuve Clicquot und La Mer. Ich konnte nicht mehr erkennen, wo die Menschen aufhörten und die Wände, die Gemälde, wo das ganze teure Material begann. Erhöht wie ich war, waren die Unterschiede nicht deutlich. Die Gäste der

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