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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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knielangen, irgendwie topfartigen Kleid starrt mit aufgerissenen Augen unter ihrem ausgefransten Kurzhaarschnitt gebannt ins Leere. Dort mußte ich sie zum ersten Mal gesehen haben. In einem grauen verwischten Nichts. Wie die Leere auf einem schon leicht gewellten Schwarzweißfoto eben aussah.
    Das war kurz nach einem Streit mit meiner damaligen Banknachbarin in der dritten Klasse gewesen. Bisher hatten wir zusammengehalten und waren gemeinsam jeden Tag durch die Plattenbausiedlung und das Wäldchen nach Hause gelaufen, sie wohnte drei Blöcke weiter. Aber an diesem Tag stellte sie mir grundlos erst ein Bein, und als ich mich wieder aufgerappelt hatte, fing sie an, sich über meinen grünen Schulranzen lustig zu machen, der für Krippenkinder sei mit diesen Blümchen am Deckel. Und als ich wütend wurde und die Wut mir in Tränen übers Gesicht lief, weil der Ranzen ein Geschenk meiner Lieblingstante war, sagte sie,
oh, jetzt fängt sie auch noch an zu weinen, ganze große Krokodilstränen, wie niedlich!
    Das Foto von mir mit acht klebte in einem silbergrauen |20| Album, dessen Einband gepolstert war. Ich sah mich an. Das topfartige Kleid. Der Kurzhaarschnitt. Das Staunen im Blick und die Leere vor Augen.
    Damals, dachte ich, waren mir noch keine Züge durch den Nacken gefahren.
    Als mein Tagespensum bei drei Lebertranflaschen und sieben Ibuprofen angelangt war, rief ich verzweifelt meine Freundin an. Aber statt sich für meine Schmerzen zu interessieren, fragte sie erbost: »Na haste denn noch nüscht mit deine Jene jemacht?«
    »Nee«, sagte ich und brach in Schluchzen aus, so laut, daß ihr Angebot, sofort vorbeizukommen, darin unterging. Wenig später war sie da.
    »Menschenskind!« rief sie und fummelte aufgeregt mit einem Taschentuch in meinem Gesicht herum. »Imma mit da Ruhe, du ruinierst dir noch die janze Visage!«
    »Für mich ist das gelaufen, aber echt«, sagte ich, »so eine schwachsinnige Idee, und wieso muß
ich
überhaupt die Geschichtentante sein, wieso können die sich nicht selber was ausdenken, und außerdem tut mein Rücken weh. Als hätte ich mich verbrannt.«
    »Komm ma, Kleene«, sagte meine Freundin vom Dorf, legte mir meinen Mantel um und zog mich hinaus auf die Straße. »Dit iss so bei Weihnachten. Da kricht ma schon ma dit Ziehen im Rücken von dit janze Rummjerenne. Deswejen mußte doch nich gleich flennen, da mußte nur ma n bißcken abspannen. Uff andre Jedanken kommen.«
    »Ja«, schluchzte ich, die Nase im Taschentuch. Es war hundekalt und zehn Tage vor Weihnachten.
    »Beispielsweise ne Jallerie! Sowat lenkt ab. Da kiekste dir n paar verrückte Jemälde an, da siehste so Knoten und Punkte anne Wände, wat allet de Haare vom Koppe kostet, und am Ende biste janz froh, daß de deine Kröten in wat |21| Ordentlichet anjelegt hast. Komm man, Kleene! Da jehts da ooch mit dein Kreuze wieda bessa.«
    Das Angenehme an meiner Freundin vom Dorf ist, daß sie immer so praktische Vorschläge hat. Sie trug lilafarbene Pulswärmer und einen etwas überdimensionierten Hut, der oben zu einem länglichen blauen Zipfel auslief. Die Schneereste knirschten. »Früha, da ham ja de Kollejen ma wat jemalt, so im Zirkel malender Arbeiter, aba jibtet ja allet nich mehr.«
    Jedesmal, wenn sie von früher sprach, fiel mir auf, daß wir da noch nicht sehr miteinander bekannt gewesen sein mußten. Ich sage nicht: überhaupt nicht. Wir kannten uns. Wir haben uns immer gekannt. Jedenfalls, solange ich mich erinnern kann, und ich erinnere mich, solange wir uns kennen. Nur eben nicht sehr. Es fiel mir auf, weil mir das, was sie sagte, oft fremd war. Nicht die Orte, an denen sie gewohnt hatte, oder die Kargheit der Landschaft. Die Landschaften waren sich ziemlich gleich geblieben.
    Aber ihr Leben insgesamt war mir fremd, die Redeweisen, das, was man voneinander erwartet hatte oder nicht und wie man umeinander herumgeschlichen war, sich belauert hatte und sich gleichzeitig doch vertraute; eine seltsame Mischung aus Vorsicht und Anziehung, für deren Feinheiten ich damals noch zu jung gewesen war.
    Sie sagte, die Ausstellung sei in einer Villa mit gefrorenem Kletterrosenbehang. Sie beschrieb mir die Straße. Es war leicht, ihr zu folgen. Ein nackter Amor stand im Garten, ein Schild am Zaun warb für Aquarelle.
    »Seit wann stehst du auf Weichzeichnerei?«
    »Nu komma erstma rin.«
    Drinnen gab es einen Marmorfußboden, über den sich Paare aus Zehlendorf, ältere Damen in Pelzmänteln mit |22| hochtoupierten Frisuren,

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