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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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aber man möchte »doch ooch überrascht werden«, wie meine Freundin sagt. Auch wenn es am Ende wieder auf eine Geburt hinausläuft, auf das schreiende Kind im Stroh, dem ein Mohr und drei Heilige aus dem Morgenland Kräutersud und teure Glitzer-Windeln vorbeibringen.
    Selbst im Osten sind die Leute noch jedes Jahr erwartungsfroh in die Kirche gelaufen, obwohl es verboten war, vielleicht nur, um endlich zu hören, daß es diesmal ein Mädchen geworden ist, und dann wird’s doch wieder ein Junge. Irgendwann hat man die Nase voll und beginnt, eine eigene Tradition zu begründen, und wenn man sie begründet hat, dauert es nicht lange, und man sehnt sich nach der alten Weihnachtsgeschichte zurück, weil so eine eigene doch Schwierigkeiten bereitet.
    Nur mein Bruder akzeptierte das nicht. Er war nicht zu bremsen. Er hatte diese kindliche Unschuld im Blick, als er sich vor mich hinstellte und sagte: Du bist doch Schriftstellerin!
    Das funktioniert immer. Ich habe ihm zwar erklärt, daß Weihnachten das schlimmste, das sentimentalste, ein marodes Genre ist, das Dickens unrettbar in die Ecke geschrieben hat, aufs Abstellgleis, ins Aus, aber noch während ich mit wachsender Hysterie redete, war der Fall schon verloren.
    Es funktioniert immer, weil ich mir nichts so sehr wünsche wie Schriftstellerin zu sein. Das weiß mein Bruder. Ich habe ihm davon schon vorgeschwärmt, da war ich zwölf und er sieben, und wir hatten beide noch Mühe, das zu verstehen.
    |14| Mittlerweile weiß er auch längst, wie korrumpierbar ich bin. Jedesmal, wenn mir einer auf den Kopf zusagt, ich sei, was ich mir wünsche, werde ich schwach, egal, welche Bedingungen sich daran knüpfen.
    Die Bedingungen meines Bruders sind abenteuerlich.

|15| Probeflug
    Ich saß am nächtlichen Schreibtisch, beneidete die Bibel um ihre Anschaulichkeit, sehnte mich nach der Zeit, als ein auswendig gelernter Eichendorff zu Weihnachten noch genügte, und pulte Kerzenwachs vom Vorweihnachtskranz.
    Als ich genug abgepult hatte und draußen gerade die Sterne vom Morgen überblendet wurden, rief ich meine Freundin an. Sie wohnt auf dem Dorf. Seit sie da draußen wohnt, hat sie oft schräge Einfälle, und ich dachte, sie könnte mir bei meiner neuen Aufgabe behilflich sein.
    Sie war gerade aus einem Albtraum erwacht. Sie erzählte wirr von einem Lexikon des Lebens und daß dort Dinge zu finden seien, von denen man noch nicht einmal gewußt habe, daß man sie suche. Ein riesiges, zwölfhundertbändiges Werk. Ich verstand sie nicht, und wir legten enttäuscht wieder auf. Aber nach einer Weile kam mir der Gedanke, mal im Brockhaus nachzuschlagen.
    Da mir bisher nichts eingefallen war, konnte ich genausogut das erste Stichwort, das ich fand, zum Aufhänger meiner Geschichte machen, zum Sujet. Mein Bruder hatte gesagt, Nachschlagewerke wären erlaubt, Nachschlagewerke wären sogar nützlich, schließlich sollte das Ganze glaubhafter als in der Christenlehre sein. Vielleicht stieß |16| ich auf ein originelles Wort, dessen rätselhafter Klang entfernt an Weihnachten erinnerte.
    Ich fand »Gen«.
    Ich stand da mit dem Brockhaus im Arm, es war der vierte Dezember, und hatte »Gen« zum Sujet meiner ersten Auftragsarbeit gemacht. So ist das mit Traditionen in Eigenverantwortung.
    Mit »Gen« ging gar nichts.
    Mit »Gen« konnte ich bestenfalls eine Gans manipulieren. Ich konnte sie übergewichtig machen, so daß es Probleme beim Braten gab. Oder die Gänse waren deformiert, was einen gesamtdeutschen Bratenausfall und einen Absturz von Gansaktien verursachte, oder meine zukünftige Hauptfigur engagierte sich bei den Grünen und aß nichts außer rohen Äpfeln aus dem Ural. Aber das war höchstens was für die taz. Ich war frustriert und ging joggen.
    Am Abend kam meine Freundin vom Dorf vorbei. Sie hätte in der Stadt ein paar Dinge zu erledigen, sagte sie, klopfte ihre Schuhe ab und setzte Glühwein auf. Ich erzählte ihr von meinen Schwierigkeiten mit genmanipulierten Gänsebraten. Sie starrte mich eine Weile an, schüttelte verzweifelt ihr Haupt und verschwand. Eine dreiviertel Stunde später war sie zurück, einen Umweltbeutel schwenkend, in dem sich ein Karton mit braunen, stiernackigen Flaschen befand. Lebertran, dachte ich. Sie sagte, ich solle mich erstmal beruhigen. Dann falle mir schon etwas ein. Wenn ich alle sechs Stunden zwei Eßlöffel dieses Lebertrans einnähme, der offenbar ein hoch dosiertes Beruhigungsmittel war, werde mir das auch gelingen. Ich gehorchte, fiel in

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