Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Seite in Kontakt kommt, ist davon bestürzt. Wenn sich Menschen raffgierig oder ausbeuterisch verhalten, fallen sie meistens aus allen Wolken, wenn sie darauf aufmerksam gemacht werden. Gewöhnlich werden diese unliebsamen Eigenschaften anderen zugeschrieben und dann dort bekämpft.
Erlauben Sie sich, kurz darüber nachzudenken, welche Eigenschaften Sie an anderen Personen ablehnen und wie diese mit Ihnen selbst im Zusammenhang stehen könnten?
Der persönliche unbewusste Schatten kann sich auch mit archetypischen Bildern aus dem kollektiven Unbewussten verbinden. Im veränderten Bewusstseinszustand erlebte ein Teilnehmer folgende Sequenz:
»Plötzlich vernahm ich aus der linken Ecke des Raumes kommend ein starkes Schnaufen bzw. ein unheimliches Zischen. Es befand sich dort ein feuerspeiendes Ungeheuer, welches mich mit furchterregenden Augen wütend anstarrte. Es erfasste mich eine entsetzliche Angst, ich fühlte mich existenziell bedroht; es wurde mir blitzartig bewusst: Davonlaufen ist nicht die Lösung! Stell dich dieser Auseinandersetzung! (…) Meine Kräfte wuchsen spürbar, ich fühlte mich für diesen Kampf gewappnet. Da bemerkte ich zu meinem großen Erstaunen: Das Ungeheuer wurde in dem Maße kleiner, wie meine Kräfte wuchsen. Es dauerte eine lange Zeit: Immer wieder dieser Wechsel, einmal war das Ungeheuer, dieser Dämon riesig, übermächtig, furchterregend, dann wieder ich. Dennoch, irgendwann erfasste mich eine tiefe Furcht, und vor lauter Angst wurde mir richtig übel, es befiel mich ein starkes Würgen. Dann aber spürte ich in meinen Händen eine übermenschliche Kraft. So stürzte ich mich auf das Ungeheuer und wollte es erwürgen. Plötzlich wurde mir bewusst: Ich muss dieses Dunkle gar nicht vernichten. Es war ein wunderbares leichtes Gefühl in mir. Aus dem Ungeheuer wurde dann ein schönes Pferd. Ich schwang mich auf das herrliche Tier, und gemeinsam ritten wir durch blühende Landschaften, weite fruchtbare Täler, durch karge und dennoch beeindruckende Wüsten.«
Der Gegensatz zwischen der Moral und dem Bösen wird in der biblischen Geschichte faszinierend von Kain und Abel verkörpert. Aber auch Schattengestalten wie Judas, Hagen oder Luzifer sowie religiöse Bestrafungsszenarien, wie sie unter anderem in den krassesten Höllenbeschreibungen vorkommen, zeigen, dass diese Auseinandersetzung den Menschen schon lange begleitet. Nicht jedoch die Ausmerzung des Schlechten ist die Lösung, sondern die Anerkennung. Wenn die Vollkommenheit, das Gute, Reine und Edle zu sehr betont wird, ist garantiert das Gegenteil ganz nahe. Freud (1975, S. 318 f.) weist darauf hin, dass »… die Natur des Menschen im Guten wie im Bösen weit über das hinausgeht, was er von sich glaubt, das heißt, was seinem Ich durch Bewusstseinswahrnehmung bekannt ist«. Kein Krieg könnte geführt werden, wenn nicht ein Schatten auf den Feind projiziert würde.
Ein sozialer Schatten bildet sich dann, wenn eine Gemeinschaft bestimmten Themen ausweicht oder massive Verbote und enge Verhaltensregeln vorgibt. In spirituellen Gruppen ist es vor allem der Umgang mit Macht, Geld und Sex, der zu Komplikationen führt. Wenn die Gebote von Keuschheit und Entsagung ein hohes Gewicht haben, kann man sicher sein, dass die triebhaften Neigungen zunehmen und finanzielle Untreue an der Tagesordnung ist. Natürlich können auch Älterwerden, Sterblichkeit oder Verletzlichkeit ausgegrenzt werden. Der moderne Jugendwahn verhindert eine bejahende Haltung dem Alter gegenüber. Je enger die Moralvorstellungen und je rigider die Normen, desto größer wird der Schatten, und desto mehr dominiert das Trennende und Polarisierende. Das Unterdrückte entfaltet eine eigenständige und unfassbare Dynamik. Man stagniert und fühlt sich energielos, weil die vitalen Kräfte für die Verdrängung benötigt werden. Die Wahrnehmung muss abgelenkt und eingeschränkt werden, was durch noch einseitigere Bewertungen bestärkt wird. Dennoch beschleicht einen eine diffuse Unsicherheit, denn man weiß nicht recht, wer man ist, und ahnt, dass etwas nicht stimmt.
In der Meditation bewirken unerlöste Schattenaspekte Unruhe, Verspannungen, Zweifel und das Gefühl der Gottesferne. Die mangelnde Integration des Schattens kann auf dem spirituellen Weg verheerende Folgen haben: Rigidität, unbarmherzige Strenge, subtile Aggressivität, Falschheit, Härte gegen sich und andere, Zweifel und Fassadenhaftigkeit. Jemand, der seine täglichen Meditationsübungen unterbrach,
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