Vom Ende einer Geschichte
abschloss. Und dann? Wahrscheinlich eine Dissertation und anschließend eine Karriere in der Wissenschaft oder ein Job im öffentlichen Sektor, bei dem er sein Köpfchen und sein Verantwortungsbewusstsein einsetzen konnte. Jemand hat mir mal erzählt, der Staatsdienst sei (jedenfalls in den höheren Rängen) ein faszinierender Wirkungskreis, weil man da ständig moralische Entscheidungen zu treffen habe. Vielleicht wäre das für Adrian das Richtige gewesen. In meinen Augen war er jedenfalls kein Mensch, der mit beiden Beinen auf der Erde stand, und auch kein Abenteurer – außer im intellektuellen Sinn, natürlich. Er war keiner von denen, deren Name und Gesicht in die Zeitung kommen.
Du hast wahrscheinlich erraten, dass ich mich davor drücken will, den nächsten Teil zu erzählen. Also gut: Adrian schrieb, er wolle mich um Erlaubnis bitten, mit Veronica zu gehen.
Ja, warum mit ihr und warum gerade dann; und weiter, warum bitten? Genau genommen schrieb er, wenn ich meiner Erinnerung überhaupt so weit trauen darf (und diesen Brief habe ich auch nicht aufbewahrt), er und Veronica gingen bereits miteinander, ein Sachverhalt, von dem ich zweifellos früher oder später Kenntnis erhalten werde; darum erscheine es ihm besser, dass ich es von ihm erfahre. Außerdem werde mich diese Entwicklung zwar vielleicht überraschen, doch hoffe er, ich könne sie verstehen und akzeptieren, denn andernfalls sei er es unserer Freundschaft schuldig, seine Handlungen und Entscheidungen noch einmal zu überdenken. Und schließlich, dass er diesen Brief mit Veronicas Einverständnis schreibe – ja, dies gehe zum Teil auf ihren Vorschlag zurück.
Wie du dir denken kannst, hatte ich meine Freude an den Ausführungen über seine moralischen Skrupel – die sinngemäß besagten, falls ich meinte, hier sei ein hehrer Kodex der Ritterlichkeit oder, besser noch, ein modernes ethisches Prinzip verletzt worden, dann werde erselbstverständlich und logischerweise aufhören, Veronica zu ficken. Immer vorausgesetzt, dass sie ihn nicht an der langen Leine hielt wie mich damals. Mir gefiel auch die Scheinheiligkeit eines Briefes, der mir im Wesentlichen nicht nur etwas mitteilen wollte, was ich womöglich sowieso nie (oder erst viel später) erfahren hätte, sondern mich auch wissen ließ, wie sie, Veronica, sich verbessert hatte: Sie hatte jetzt meinen intelligentesten Freund und obendrein einen Cambridge-Studenten wie Bruder Jack abgekriegt. Außerdem sollte der Brief mich warnen, dass sie mit von der Partie wäre, falls ich Adrian treffen wollte – was die erwünschte Wirkung hatte, dass ich Adrian nicht treffen wollte. Nicht schlecht für einen Tag oder eine Nacht. Ich muss noch einmal betonen, dass das mein jetziges Verständnis des damaligen Geschehens ist. Besser gesagt, meine jetzige Erinnerung an mein damaliges Verständnis des damaligen Geschehens.
Aber ich glaube, ich habe einen instinktiven Überlebenswillen, einen Selbsterhaltungstrieb. Vielleicht war es das, was Veronica Feigheit nannte und ich Friedfertigkeit. Jedenfalls warnte mich eine innere Stimme, mich da nicht einzumischen – zumindest nicht gleich. Ich nahm die nächstbeste Postkarte – mit einem Bild der Clifton-Hängebrücke – und schrieb so etwas wie: »Im Besitz Deines werten Schreibens vom 21. erlaubt sich der Unterzeichnete, seine Gratulation darzubringen, und gibt hiermit zur Kenntnis, dass meinerseits alles völlig okay ist, altes Haus.« Albern, aber unzweideutig; und das würde im Moment reichen. Ich würde so tun, als ließe mich die ganze Geschichte völlig kalt – und vor allem würde ich mir das selbst einreden. Ich würde fleißig lernen, meine Gefühle auf Eis legen, niemanden aus der Kneipe mit nach Hausenehmen, onanieren wie und wann erforderlich und dafür sorgen, dass ich im Examen die Note bekam, die ich verdient hatte. Das habe ich alles getan (und jawohl, ich habe ein »Sehr gut« bekommen).
Nach den Prüfungen blieb ich noch ein paar Wochen in Bristol, fand einen anderen Freundeskreis, trank systematisch, rauchte ein bisschen Dope und dachte an fast gar nichts. Außer dass ich mir vorstellte, was Veronica womöglich Adrian über mich erzählt hatte (»Er hat mir die Jungfernschaft geraubt und mich gleich danach abserviert. Also wirklich, das war für mich wie eine Vergewaltigung, verstehst du?«). Ich stellte mir vor, wie sie ihm Honig ums Maul schmierte – den Anfang davon hatte ich ja miterlebt – und sich bei ihm einschmeichelte, immer
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