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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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du, dass ich mich Veronica gegenüberwie ein typisches unreifes Mannsbild verhalten habe und dass alle meine »Schlussfolgerungen« umkehrbar sind. So wird etwa »Nachdem wir uns getrennt hatten, schlief sie mit mir« durch einen leichten Dreh zu »Nachdem sie mit mir geschlafen hatte, trennte ich mich von ihr«. Vielleicht meinst du außerdem, die Fords seien eine normale englische Mittelschichtsfamilie gewesen, der ich bösartig üble Schadens-Theorien übergestülpt habe; und Mrs Ford habe nicht taktvoll ihre Sorge um mich zum Ausdruck gebracht, sondern eine ungehörige Eifersucht auf ihre Tochter an den Tag gelegt. Vielleicht willst du sogar, dass ich meine »Theorie« auf mich selbst anwende und erkläre, welchen Schaden ich selbst vor langer Zeit erlitten und welche Auswirkungen das gehabt haben könnte: zum Beispiel auf meine Glaubwürdigkeit und Wahrheitsliebe. Wenn ich ehrlich bin, wüsste ich nicht, ob ich darauf eine Antwort hätte.
    Ich erwartete keine Antwort von Adrian und bekam auch keine. Damit wurde die Aussicht, Colin und Alex allein zu treffen, weniger verlockend. Wir waren ein Dreigespann gewesen, dann ein Viererbund, wie sollten wir da wieder zu der Konstellation eines Dreigespanns zurückkehren? Wenn die anderen sich zu einer eigenen Gruppe zusammenschließen wollten, wunderbar, nur zu. Ich musste mit meinem eigenen Leben vorankommen. Das tat ich dann auch.
    Einige meiner Altersgenossen machten einen freiwilligen Dienst in Übersee und fuhren nach Afrika, wo sie Schulkinder unterrichteten und Mauern aus Lehm bauten; so idealistisch war ich nicht. Außerdem ging man damals irgendwie davon aus, dass ein anständiges Examen einen anständigen Job garantierte, jedenfalls früher oderspäter. »Tai- jai-jai-jaim is on my side, yes it is«, trällerte ich gern im Duett mit Mick Jagger, während ich allein in meiner Studentenbude herumhüpfte. Also überließ ich es anderen, sich als Ärzte und Juristen ausbilden zu lassen oder die Eingangsprüfungen für den Staatsdienst zu absolvieren, ging in die USA und trieb mich ein halbes Jahr dort herum. Ich kellnerte, strich Zäune an, machte Gartenarbeiten und überführte Autos quer durch die Staaten. In jenen Zeiten, als es noch keine Handys, keine E-Mails und kein Skype gab, waren Reisende auf das rudimentäre Kommunikationssystem angewiesen, das man Postkarte nennt. Andere Möglichkeiten – wie Ferngespräch oder Telegramm – waren für absolute Notfälle reserviert. Daher verabschiedeten mich meine Eltern ins Unbekannte, und ihre Bulletins bezüglich meiner Person beschränkten sich auf »Ja, er ist gut angekommen« und »Als wir das letzte Mal von ihm hörten, war er in Oregon« und »Wir erwarten ihn in ein paar Wochen zurück«. Ich will damit nicht sagen, dass das unbedingt besser war, geschweige denn mehr zur Charakterbildung beitrug; nur war es für mich wahrscheinlich hilfreich, dass meine Eltern nicht einen Knopfdruck entfernt waren und mich mit ihren Befürchtungen und langfristigen Wetterprognosen überschütten oder vor Überschwemmungen, Epidemien und Psychopathen warnen konnten, die es auf Rucksacktouristen abgesehen hatten.
    Dort drüben lernte ich ein Mädchen kennen: Annie. Sie war Amerikanerin und reiste wie ich in der Gegend herum. Wir taten uns zusammen, wie sie sich ausdrückte, und verbrachten drei Monate miteinander. Sie trug karierte Hemden, hatte graugrüne Augen und ein freundliches Wesen; wir wurden schnell und mühelos ein Liebespaar; ich konnte mein Glück nicht fassen. Ich konnteauch nicht fassen, wie einfach das war: Freunde und Bettgefährten zu sein, zusammen zu lachen und zu trinken und ein bisschen Dope zu rauchen, gemeinsam etwas von der Welt zu sehen – und dann ohne Beschuldigungen und Vorwürfe auseinanderzugehen. Fröhlich daran und fröhlich davon, sagte sie und meinte es ernst. Später, im Rückblick, fragte ich mich, ob nicht ein Teil von mir über ebendiese Lockerheit entsetzt war und nach mehr Komplikationen verlangte, zum Beweis von … was eigentlich? Tiefgang, Ernsthaftigkeit? Obwohl man weiß Gott auch Komplikationen und Schwierigkeiten haben kann, ohne dass das durch Tiefgang und Ernsthaftigkeit kompensiert würde. Viel später ertappte ich mich auch bei der Überlegung, ob »Fröhlich daran und fröhlich davon« nicht auch eine Art war, eine Frage zu stellen und auf eine bestimmte Antwort zu hoffen, die ich nicht bieten konnte. Aber das ist alles nebensächlich. Annie gehörte zu meiner Geschichte,

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