Vom Ende einer Geschichte
mit Blick auf seine glänzende Zukunft. Wie gesagt, Adrian war bei allem akademischen Erfolg kein Mensch, der mit beiden Beinen auf der Erde stand. Daher der erhabene Ton seines Briefes, den ich eine Zeit lang voller Selbstmitleid wieder und wieder las. Als ich schließlich doch richtig darauf antwortete, gebrauchte ich nicht die alberne Sprache der »werten Schreiben«. Soweit ich mich erinnere, erklärte ich ihm recht genau, was ich von ihren gemeinsamen moralischen Skrupeln hielt. Außerdem riet ich ihm zur Vorsicht, denn meiner Ansicht nach hätte Veronica schon längst einen Schaden erlitten. Dann wünschte ich ihm Glück, verbrannte seinen Brief auf einem leeren Kaminrost (melodramatisch, wohl wahr, aber ich mache meine Jugend als mildernden Umstand geltend), und dachte, damit seien beide für immer aus meinem Leben verschwunden.
Was meinte ich mit »Schaden«? Das war nur eine Vermutung; wirkliche Beweise hatte ich nicht. Doch immer,wenn ich auf dieses unglückselige Wochenende zurückblickte, wurde mir klar, dass sich da nicht nur ein reichlich naiver junger Mann in einer vornehmeren und gesellschaftlich gewandteren Familie unwohl gefühlt hatte. Das natürlich auch. Aber ich spürte eine Komplizenschaft zwischen Veronica und ihrem grobschlächtigen, grobklotzigen Vater, der mich wie einen Menschen minderer Sorte behandelte. Auch zwischen Veronica und Bruder Jack, dessen Leben und Verhalten sie offenbar großartig fand: Er wurde zum Richter ernannt, als sie ihn vor allen anderen über mich befragte – und die Frage wird mit jeder Wiederholung herablassender – »Er ist ganz passabel, nicht wahr?«. Andererseits konnte ich keinerlei Komplizenschaft mit ihrer Mutter erkennen, die ihre Tochter zweifellos durchschaute. Wieso hatte Mrs Ford überhaupt Gelegenheit gehabt, mich vor ihrer Tochter zu warnen? Weil Veronica an diesem Morgen – dem ersten Morgen nach meiner Ankunft – allen erzählt hatte, ich wolle lange ausschlafen, und mit ihrem Vater und Bruder abgezogen war. Diese Erfindung war durch keinerlei Gespräch zwischen uns gerechtfertigt. Ich schlief nie lange aus. Tue ich heute noch nicht.
Als ich an Adrian schrieb, hatte ich selbst gar keine klare Vorstellung davon, was ich mit »Schaden« meinte. Und fast ein Leben lang später ist meine Vorstellung davon nicht viel klarer geworden. Meine Schwiegermutter (die in dieser Geschichte zum Glück keine Rolle spielt) hielt nicht viel von mir, aber sie machte wenigstens keinen Hehl daraus, wie sie fast nie einen Hehl aus etwas machte. Einmal sagte sie – als wieder einmal ein Fall von Kindesmissbrauch die Zeitungen und Fernsehnachrichten beherrschte –: »Ich glaube, wir wurden alle missbraucht.« Will ich damit andeuten, dass Veronicaein Opfer von »ungebührlichem Verhalten« wurde, wie das heutzutage heißt: bierselige Lüsternheit des Vaters beim Baden oder Gutenachtsagen, mehr als geschwisterliches Geschmuse mit ihrem Bruder? Woher sollte ich das wissen? Gab es einen Ur-Moment des Verlusts, eine Verweigerung von Liebe, wenn sie am meisten gebraucht wurde, ein mitgehörtes Gespräch, aus dem das Kind schloss, dass …? Auch das kann ich nicht wissen. Ich habe keinerlei Beweise, weder in anekdotischer noch in dokumentarischer Form. Aber ich erinnere mich an die Bemerkung von Old Joe Hunt bei seiner Auseinandersetzung mit Adrian: dass man aus Handlungen auf die geistige Verfassung schließen könne. Das bezog sich auf die Geschichte – Heinrich den Achten und so weiter. Im Privatleben trifft meiner Meinung nach das Gegenteil zu: dass man aus der jetzigen geistigen Verfassung auf frühere Handlungen schließen kann.
Ich glaube ganz sicher, dass wir alle auf die eine oder andere Art Schaden erleiden. Wie sollte es anders sein, außer in einer Welt mit perfekten Eltern, Geschwistern, Nachbarn und Gefährten? Und dann stellt sich die Frage, von der so viel abhängt, wie wir mit diesem Schaden umgehen: Ob wir ihn zugeben oder unterdrücken, und wie sich das auf unsere Beziehungen zu anderen auswirkt. Manche Leute geben den Schaden zu und versuchen, ihn zu mildern; andere versuchen ihr Leben lang, anderen, die einen Schaden erlitten haben, zu helfen; dann gibt es noch die, deren größte Sorge es ist, um jeden Preis weiteren Schaden von sich abzuwehren. Und das sind die Skrupellosen, vor denen man sich in Acht nehmen muss.
Vielleicht hältst du das alles für Unsinn – moralisierenden Unsinn, der nur der eigenen Rechtfertigung dient. Vielleicht denkst
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