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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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aber nicht zu dieser Geschichte.
    Meine Eltern dachten daran, mich zu kontaktieren, als es geschah, aber sie hatten keine Ahnung, wo ich war. In einem wirklichen Notfall – Anwesenheit am Sterbebett der Mutter erforderlich – hätte sich vermutlich das Außenministerium mit der Botschaft in Washington in Verbindung gesetzt, und die hätte dann die amerikanischen Behörden informiert, und die hätten die Polizei landesweit nach einem fröhlichen, sonnenverbrannten Engländer suchen lassen, der etwas selbstsicherer war als bei seiner Ankunft im Lande. Heutzutage bedarf es nur einer SMS .
    Als ich nach Hause kam, umarmte mich meine Mutter mit steifen Armen und gepudertem Gesicht, schickte mich in die Badewanne und kochte mir das, was weiterhinals mein »Lieblingsessen« galt und das ich als solches akzeptierte, da ich meine Mutter, was meine Geschmacksknospen betraf, schon länger nicht mehr auf den neuesten Stand gebracht hatte. Hinterher überreichte sie mir die wenigen Briefe, die während meiner Abwesenheit gekommen waren.
    »Diese beiden solltest du zuerst aufmachen.«
    Der oberste enthielt eine kurze Nachricht von Alex. »Lieber Tony«, stand da. »Adrian ist tot. Er hat sich umgebracht. Ich habe deine Mutter angerufen, und die hat gesagt, sie weiß nicht, wo du bist. Alex.«
    »Scheiße«, sagte ich und fluchte damit zum ersten Mal vor meinen Eltern.
    »Tut mir leid, mein Junge.« Die Stellungnahme meines Vaters erschien mir etwas dürftig. Ich schaute ihn an und überlegte unwillkürlich, ob Kahlköpfigkeit erblich sei – erblich sein würde.
    Nach so einem gemeinschaftlichen Schweigen, das in jeder Familie anders ist, fragte meine Mutter: »Glaubst du, das kommt daher, weil er zu intelligent war?«
    »Ich hab die Statistiken über den Zusammenhang von Intelligenz und Selbstmord gerade nicht zur Hand«, erwiderte ich.
    »Ja, Tony, aber du weißt schon, was ich meine.«
    »Nein, ganz und gar nicht.«
    »Nun, sagen wir so: Du bist ein intelligenter Junge, aber nicht so intelligent, dass du so etwas tun würdest.«
    Ich starrte sie gedankenleer an. Sie missverstand das als Ermutigung und fuhr fort: »Aber wenn man sehr, sehr intelligent ist, dann kann einen etwas aus der Bahn werfen, glaube ich, wenn man nicht aufpasst.«
    Um mich nicht weiter mit dieser Theorie abgeben zu müssen, machte ich Alex’ zweiten Brief auf. Er schrieb,Adrian sei sehr durchdacht vorgegangen und habe eine ausführliche Darstellung seiner Gründe hinterlassen. »Wir sollten uns treffen und reden. Die Bar im Charing Cross Hotel? Ruf mich an. Alex.«
    Ich packte aus, gewöhnte mich wieder ein, berichtete von meinen Reisen, machte mich erneut mit dem alltäglichen Trott und den Gerüchen, den kleinen Freuden und großen Stumpfsinnigkeiten der Heimat vertraut. Doch meine Gedanken kehrten immer wieder zu den leidenschaftlich-unbedarften Diskussionen zurück, in die wir uns gestürzt hatten, als Robson sich auf dem Dachboden erhängt hatte, damals, bevor unser Leben begann. Es schien uns philosophisch evident, dass jeder freie Mensch ein Recht auf Selbstmord hatte: ein logischer Akt bei unheilbarer Krankheit oder Senilität; ein heroischer Akt bei Folter oder dem vermeidbaren Tod anderer; ein glorreicher Akt im Furor enttäuschter Liebe (siehe: große Literatur). Robsons schäbig-unbedeutende Tat ließ sich in keine dieser Kategorien einordnen.
    Und auch Adrian ließ sich so nicht einordnen. In dem Brief, den er für die ermittelnden Beamten hinterlassen hatte, hatte er seine Argumente erläutert: Das Leben sei ein Geschenk, um das niemand gebeten habe; der denkende Mensch habe eine philosophische Pflicht, das Wesen des Lebens wie auch die damit einhergehenden Bedingungen zu erforschen; und wenn dieser Mensch sich entscheide, dieses Geschenk, um das niemand gebeten habe, zurückzuweisen, sei es seine moralische und menschliche Pflicht, den Konsequenzen dieser Entscheidung gemäß zu handeln. Am Ende stand praktisch ein Quod Erat Demonstrandum. Adrian hatte den Ermittlungsbeamten gebeten, seine Argumentation bekannt zu machen, und dieser hatte der Bitte entsprochen.

    Nach einer Weile fragte ich: »Wie hat er es gemacht?«
    »Er hat sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten.«
    »Mein Gott. Das ist doch irgendwie … griechisch, nicht wahr? Oder war das Schierling?«
    »Das Muster ist eher römisch, würde ich sagen. Sich die Adern öffnen. Und er wusste genau, wie man es machen muss. Man muss diagonal schneiden. Bei einem

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