Vom Ende einer Geschichte
vielleicht. Aber …« »Aber was, Mr Webster?« »Aber wir lieben nur wenige Menschen in unserem Leben. Einen, zwei, drei? Und manchmal merken wir das erst, wenn es zu spät ist. Dabei ist es nicht unbedingt zu spät. Haben Sie diese Geschichte von der spät erblühtenLiebe in einem Altersheim in Barnstaple gelesen?« »Ach bitte, Mr Webster, ersparen Sie uns Ihre sentimentalen Sophistereien. Wir sind hier in einem Gericht, das sich mit Tatsachen beschäftigt. Was genau sind die Tatsachen in diesem Fall?«
Ich könnte nur antworten, meiner Meinung – meiner Theorie – nach gehe im Laufe der Zeit etwas – etwas anderes – mit der Erinnerung vor. Man lebt jahrelang mit denselben Erinnerungsschleifen, denselben Fakten und denselben Emotionen. Ich drücke auf einen mit Adrian oder Veronica bezeichneten Knopf, und das Band läuft, das übliche Zeug spult sich ab. Die Ereignisse bekräftigen erneut die Emotionen – Ärger, ein Gefühl von Ungerechtigkeit, Erleichterung – und umgekehrt. An etwas anderes kommt man offenbar nicht heran; der Fall ist abgeschlossen. Und darum sucht man Bestätigung, auch wenn sie sich als Widerspruch erweist. Doch wenn sich nun, und sei es erst viel später, die Emotionen bezüglich dieser längst vergangenen Ereignisse und Menschen ändern? Mein hässlicher Brief löste Reue in mir aus. Veronicas Bericht vom Tod ihrer Eltern – ja, selbst vom Tod ihres Vaters – hatte mich mehr berührt, als ich für möglich gehalten hätte. Ich empfand eine neue Zuneigung zu ihnen – und zu ihr. Dann, nicht lange danach, fing ich an, mich an Vergessenes zu erinnern. Ich weiß nicht, ob es dafür eine wissenschaftliche Erklärung gibt – die damit zu tun hat, dass neue Gefühlszustände blockierte Neuralpfade wieder frei machen. Ich kann nur sagen, dass es geschehen war und dass es mich in Erstaunen versetzte.
Darum schickte ich Veronica trotz allem – und ungeachtet der Stimme des Verhörs in meinem Kopf – eine Mail und schlug ein erneutes Treffen vor. Entschuldigtemich dafür, dass ich so viel geredet hatte. Wollte mehr über ihr Leben und ihre Familie erfahren. Musste irgendwann in den nächsten Wochen sowieso nach London. Ob ihr derselbe Ort und die gleiche Zeit recht wären?
Wie haben die Leute das früher nur ausgehalten, wenn Briefe ewig nicht ankamen? Wahrscheinlich war drei Wochen Warten auf den Briefträger damals so wie heute drei Tage auf eine E-Mail. Wie lange können einem drei Tage vorkommen? Lang genug für das Gefühl, es habe sich am Ende gelohnt. Veronica hatte nicht mal meinen Betreff – »Noch mal Hallo?« – gelöscht, der mir jetzt ziemlich plump-vertraulich erschien. Aber sie fühlte sich offenbar nicht beleidigt, denn sie gewährte mir ein Rendezvous, in einer Woche, um fünf Uhr nachmittags, an einer mir unbekannten U-Bahn-Station in Nordlondon.
Ich fand das spannend. Wer hätte das nicht spannend gefunden? Da stand zwar nicht gerade »Bring eine Zahnbürste und deinen Pass mit«, aber irgendwann kommt die Zeit, wo sich die Variationen des Lebens anscheinend in engen Grenzen halten. Wieder war mein erster Impuls, Margaret anzurufen; dann entschied ich mich dagegen. Margaret ist sowieso kein Freund von Überraschungen. Sie war – ist – ein Mensch, der gerne vorausplant. Bevor Susie geboren wurde, hatte sie ihren Fruchtbarkeitszyklus beobachtet und mich darauf hingewiesen, wann der günstigste Zeitpunkt wäre, um miteinander zu schlafen. Was mich entweder in einen Zustand heißer Erwartung versetzte oder – umgekehrt, ja meistens – den gegenteiligen Effekt hatte. Margaret würde nie ein geheimnisvolles Rendezvous an einer abgelegenen U-Bahn-Station vereinbaren. Sie würde sich zu einem bestimmten Zweck unter der Bahnhofsuhr in Paddington verabreden. Nichtdass ich mir damals etwa eine andere Lebensweise gewünscht hätte, verstehst du.
Eine Woche lang versuchte ich, neue Erinnerungen an Veronica freizusetzen, aber es kam nichts dabei heraus. Vielleicht strengte ich mich zu sehr an und bedrängte mein Gehirn. Darum ließ ich stattdessen meine bisherige Sammlung wieder und wieder vor mir ablaufen, die altvertrauten Bilder und die erst vor Kurzem aufgetauchten. Ich hielt sie ans Licht, drehte und wendete sie, versuchte zu erkennen, ob sie jetzt etwas anderes bedeuteten. Ich nahm mein jüngeres Ich noch einmal unter die Lupe, soweit das möglich ist. Natürlich war ich ungehörig und naiv gewesen – das sind wir schließlich alle; aber ich wollte das auch nicht
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