Vom Ende einer Geschichte
aufbauschen, denn das hieße nur, sich selbst zu belobigen für das, was aus einem geworden ist. Ich versuchte, objektiv zu sein. Die Version meiner Beziehung zu Veronica, die ich jahrelang mit mir herumgetragen hatte, war die Version, die ich damals gebraucht hatte. Ein junges Herz verraten, ein junger Körper zum Spielzeug gemacht, ein junger Mensch ohne gesellschaftliche Erfahrung herablassend behandelt. Was hatte Old Joe Hunt erwidert, als ich naseweis behauptete, Geschichte sei die Summe der Lügen der Sieger? »Solange Sie im Auge behalten, dass sie auch die Summe der Selbsttäuschungen der Besiegten ist.« Behalten wir das genügend im Auge, wenn es um unser persönliches Leben geht?
Wer die Zeit leugnet, der sagt: Vierzig ist gar nichts, mit fünfzig steht man in der Blüte des Lebens, sechzig ist das neue vierzig und dergleichen mehr. So viel weiß ich nun schon: Es gibt eine objektive Zeit, aber auch eine subjektive Zeit, und die trägt man innen am Handgelenk, direkt am Puls. Und diese persönliche Zeit ist die wahre Zeit, und ihr Maß ist das persönliche Verhältnis zur Erinnerung. Darum war es, als dieses Merkwürdige geschah – als mich plötzlich diese neuen Erinnerungen überfielen –, als habe die Zeit für den Moment den Rückwärtsgang eingelegt. Als fließe der Fluss für den Moment stromaufwärts.
Natürlich war ich viel zu früh dran, deshalb stieg ich eine Station vorher aus, setzte mich auf eine Bank und las eine Gratiszeitung. Oder starrte wenigstens darauf. Dann nahm ich die Bahn zur nächsten Station, wo mich eine Rolltreppe zu einer Schalterhalle in einem mir unbekannten Viertel von London brachte. Als ich die Schranke passierte, sah ich dort eine eigentümliche Gestalt auf eigentümliche Art stehen. Sie drehte sich sofort um und ging davon. Ich folgte ihr an einer Bushaltestelle vorbei in eine Nebenstraße, wo sie ein Auto aufschloss. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und sah zu ihr hinüber. Sie ließ bereits den Motor an.
»Das ist komisch. Ich hab auch einen Polo.«
Sie gab keine Antwort. Das hätte mich nicht wundern sollen. Soweit ich wusste und mich erinnern konnte, auch wenn meine Erinnerungen veraltet waren, waren Autos für Veronica nie ein Gesprächsthema gewesen. Für mich auch nicht – obwohl ich das wohlweislich nicht erläuterte.
Der Nachmittag war noch heiß. Ich ließ mein Fenster herunter. Sie schaute an mir vorbei und runzelte die Stirn. Ich machte das Fenster wieder zu. Na schön, sagte ich mir.
»Neulich hab ich daran denken müssen, wie wir uns die Gezeitenwelle des Severn angesehen haben.«
Sie gab keine Antwort.
»Erinnerst du dich daran?« Sie schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht? Wir waren eine ganze Bande, damals in Minsterworth. Der Mond schien …«
»Muss fahren«, sagte sie.
»Gut.« Wenn sie es so wollte. Schließlich war es ihr Ausflug. Also schaute ich aus dem Fenster. Gemischtwarenläden, Billigrestaurants, ein Wettlokal, eine Menschenschlange vor einem Geldautomaten, Frauen, bei denen kleine Speckrollen aus den Kleidern hervorquollen, jede Menge Abfall, ein herumbrüllender Irrer, eine fette Mutter mit drei fetten Kindern, Gesichter aller Rassen: eine Mehrzweck-Hauptstraße, ganz normales London.
Nach ein paar Minuten kamen wir in eine feinere Gegend: frei stehende Häuser, Vorgärten, ein Hügel. Veronica bog ab und parkte. Ich dachte: Okay, du bestimmst das Spiel – ich warte die Regeln ab, egal, wie die aussehen. Aber etwas in mir dachte auch: Verdammt noch mal, ich werde nicht aufhören, ich selbst zu sein, nur weil du wieder in deiner Wackelbrückenstimmung bist.
»Wie geht’s Bruder Jack?«, fragte ich fröhlich. Auf diese Frage konnte sie wohl kaum »Muss fahren« antworten.
»Jack ist Jack«, erwiderte sie, ohne mich anzusehen.
Na, das ist philosophisch evident, wie wir früher zu Adrians Zeiten zu sagen pflegten.
»Weißt du noch …«
»Muss warten«, unterbrach sie mich.
Na prächtig, dachte ich. Erst verabreden, dann fahren, dann warten. Was wohl als Nächstes kommt? Einkaufen, kochen, essen und trinken, knutschen, onanieren und ficken? Das möchte ich stark bezweifeln. Doch als wir so nebeneinander saßen, ein glatzköpfiger Mann und eine abgerissene Frau, bemerkte ich, was mir soforthätte auffallen sollen. Veronica war die weitaus Nervösere von uns beiden. Und während ich ihretwegen nervös war, war sie eindeutig nicht meinetwegen nervös. Ich war so etwas wie ein kleines, notwendiges Übel. Aber warum war
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