Vom Himmel hoch
Tatwerkzeug
muss sehr scharf gewesen sein«, dabei bog er vorsichtig mit zwei Fingern den
Schnitt auseinander, »ein stumpfer Gegenstand hätte mehr Rissspuren im Gewebe
erzeugt. Das würde eher wie ausgefranst aussehen.«
»Dann ist er vermutlich ausgeblutet? Wann könnte der
Tod eingetreten sein?«, fragte Christoph.
Hinrichsen wiegte den Kopf. »Das ist schwierig, weil
die Leiche die ganze Zeit über im Wasser lag. Auch die Raumtemperatur spielt
dabei eine Rolle. Ohne mich festlegen zu wollen, wage ich aber die Prognose,
dass der Tod bereits gestern Abend eingetreten ist.«
Der Arzt sah auf die Uhr. »Zur ersten groben
Orientierung würde ich den Zeitraum auf neunzehn bis zweiundzwanzig Uhr
schätzen. Alles Weitere kann erst die Obduktion klären. Dazu gehört auch, dass
ich vermute, dass der Mann unter dem Einfluss von Tabletten stand, als er
starb. Das ist aber nur ein Bauchgefühl«, schränkte der Arzt ein.
»Wenn jemand mit durchgeschnittenen Adern in der
Badewanne liegt, taucht natürlich die Frage auf, ob Selbstmord vorliegt«, warf
Christoph ein.
Dr. Hinrichsen zog die Augenbraue hoch. »Grundsätzlich
ist das natürlich naheliegend. Außergewöhnlich ist allerdings, dass sich jemand
statt der Pulsadern die Halsschlagader aufschneidet.«
»Und dazu das Corpus Delicti unauffindbar verschwinden
lässt«, mischte sich Hauptkommissar Jürgensen ein. »Wir haben nichts gefunden.
Kein Messer, keine Rasierklinge, kein Skalpell.«
»Und welche Bedeutung hat der kleine Rasierspiegel,
der vor der Wanne auf dem Boden liegt und blutbeschmiert ist?«, überlegte
Christoph laut.
Er warf noch einen letzten Blick auf den Toten.
Merkwürdig war auch, dass der Mann mit einer Badehose bekleidet in der Wanne
lag. Wer stieg mit Badekleidung in die häusliche Badewanne? Hatte er die Frau
erwartet, die ihn besucht hatte?
Und wer war diese Unbekannte, die die Vermieterin
gesehen haben wollte?
»Das wird wieder eine spannende Fragestellung für
euch«, meinte Jürgensen.
Christoph schüttelte den Kopf. »Irrtum. Dafür ist die
Mordkommission zuständig. Damit haben wir nichts zu tun.«
Ganz überzeugt war er von seiner eigenen Antwort
nicht. Dafür war der Tote zu sehr in den laufenden Fall eingebunden.
Aber Kurt Schönborn, der externe Berater des
»Friesischen Metallbaus«, konnte diese Fragen nicht mehr selbst
beantworten.
*
Große Jäger sah aus dem Fenster. Soeben überquerte der
Zug die Schleusenanlagen des Dortmund-Ems-Kanals. Es war Zeit für ihn, sich für
den Ausstieg vorzubereiten.
Die Fahrt war ruhig verlaufen. Obwohl der Zug ab
Hamburg erstaunlich gut besetzt war, hatte sich niemand zu dem grimmig
dreinschauenden unrasierten Mann mit dem Holzfällerhemd und der fleckigen
Lederweste setzen wollen.
Sie hatten auf der Dienststelle kurz über die weitere
Vorgehensweise debattiert und dann beschlossen, dass jemand Schönborns Frau
aufsuchen und befragen sollte.
Die Familie des zweiten Toten lebte in Münster. Da war
es keine Frage, dass die Aufgabe dem Oberkommissar zugefallen war, der Kindheit
und Jugend in der Region rund um Westfalens Hauptstadt zugebracht hatte.
Eine quiekende Mikrofonstimme begrüßte ihn in
»Deutschlands schönster Stadt«, wie Theodor Heuss einmal festgestellt hatte.
Erst vor kurzem war die Wahl zur »lebenswertesten Stadt der Welt« auf die
Westfalenmetropole gefallen. Weniger freundlich war der Anblick des schon seit langem zur Grundsanierung anstehenden Bahnhofes. Es gab weder Rolltreppen noch
Fahrstühle. Und alles sah so aus, als würde in der nächsten Stunde der Trupp
Handwerker zur dringend notwendigen Renovierung eintreffen. Auch das gläserne
Dreieck auf dem Bahnhofsvorplatz, das den Eingang zu einem unterirdischen
Fahrradparkhaus markierte, änderte nichts am ersten Eindruck.
Er orientierte sich kurz an den Infosäulen des
Busbahnhofes, beschloss dann aber, den Weg in die ihm fremd gewordene Stadt mit
dem Taxi zurückzulegen. Neugierig sah er aus dem Fenster, während sich das
Fahrzeug durch das Gewimmel von Fußgängern, Fahrrädern und Bussen schlängelte,
das in friedlicher Eintracht die Verkehrsflächen der Innenstadt nutzte. Große
Jäger stellte fest, dass die prächtigen Fassaden der Giebelhäuser auf dem
Prinzipalmarkt, die Arkaden mit den typischen Bögen und den liebevoll
gestalteten Blumenschalen ihn auch nach langer Abwesenheit wieder
beeindruckten. Nicht umsonst nannten die Einheimischen diesen innerstädtischen
Platz liebevoll »die gute
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