Vom Kämpfen und vom Schreiben
Freundin dabei ist, freut mich besonders.
Ich liebe meine Lesungen. Zwar fürchte ich mich jedes Mal, immer noch, nach all der Zeit, kann nächtelang nicht schlafen, renne vor dem Auftritt ständig aufs Klo, habe feuchte Hände und zitternde Finger. Ich bin widerlich und ungenießbar, Martin hasst die Zeit vor den Auftritten. Er bleibt zwar ruhig, schafft es aber kaum, mich zu beruhigen. Ich glaube nämlich jedes Mal, dass sowieso keiner kommt, dass ich es nicht gut mache, dass die Leute enttäuscht sein werden, wenn sie nach Hause gehen.
Aber das sind sie nie, im Gegenteil: Manche schließen die Augen, wenn ich vorlese, lehnen sich zurück, lachen, applaudieren, loben meine Stimme. Noch nie habe ich so viel Zuspruch bekommen, so viel Motivation. In diesen Momenten weiß ich: Dafür schreibe und lebe ich.
Das spornt mich an: Ich übe vor jedem Auftritt, probe meine Texte, experimentiere mit verschiedenen Intonationen, wage es, ausdrucksvoller vorzutragen, zu schreien, zu flüstern, zu schauspielern. Ich spiele mit meiner Stimme, die vom früheren jahrelangen Rauchen immer noch recht tief ist, lerne, meine Mimik einzusetzen, lerne, mit Pausen zu arbeiten. Weil ich mich in meinen Texten auskenne, kann ich Blickkontakt mit dem Publikum aufnehmen, in die Gesichter der Zuschauer sehen, ihre Reaktionen wahrnehmen und darauf spontan reagieren. Es gelingen mir Lesungen, in denen ich in die Rollen meiner Figuren schlüpfe, in verschiedenen Tonlagen lese.
Eine Lesung dauert zwei Mal fünfundvierzig Minuten, und die Leute sind fröhlich und guter Dinge, wenn sie gehen. Darauf bin ich stolz, denn das ist Spielfilmlänge. Für einen Spielfilm braucht man viel Geld und viele Menschen. Ich aber brauche nur einen Stuhl, ein Licht, mein Buch und meine Brille.
Es gibt jedoch auch etwas, das ich hasse wie Pest: Wenn jemand nach einer Lesung zu mir kommt und diesen Totschlagsatz von sich gibt: »Ja, also ich schreibe ja auch …«
Was erwartet jemand, der mir sowas sagt? Was soll ich denn sagen, nach einer Lesung, wenn ich nach meinem heftigen Lampenfieber soeben zwei Stunden alles gegeben habe, wenn ich um jeden einzelnen Zuschauer gebuhlt habe, ihn für mich gewinnen musste, ihn überzeugen will, ihn zum Lachen, zum Weinen, zum Nachdenken, zum Wundern gebracht habe, wenn ich alles vergessen und ausgeblendet habe, was mein Leben ausmacht, um nur für das Publikum da zu sein, für die Menschen, die meinetwegen gekommen sind und mir ihre Zeit geschenkt haben?
Was soll ich also sagen zu jemandem, der ja auch schreibt?
»Ach, wirklich?«, frage ich dann, aber es ist keine Frage.
Genauso bescheuert finde ich die Aussage: »Also, ich könnte ja auch ein Buch schreiben …« Bitte, wenn Sie das können: Tun Sie sich keinen Zwang an. Los! Fangen Sie sofort an!
Auch mit Marita spreche ich über das Schreiben, wenn sie mich ab und zu besucht. Obwohl sie inzwischen denselben Psychotherapeuten hat wie ich, scheint es ihr nicht besser zu gehen. Marita hat einen Geschichtenband verfasst und sogar einen Verlag gefunden. Die Geschichten handeln vom Altern des menschlichen Körpers und den Abenteuern der Organe im Laufe eines Lebens. Das ist nicht mein Geschmack, muss es aber auch nicht sein. Ich rate Marita, sich wegen Lesungen an Reha- und Kurkliniken zu wenden. Marita sagt: »Ja, mal sehen.«
Nach einem gemeinsamen Spaziergang stehen wir noch auf dem Gehsteig vor dem Haus. Wir reden über den Kraftakt, einen Roman zu schreiben.
Sie sagt, sie habe kürzlich mit einem Agenten geredet und ihm ein Projekt angeboten. Man habe es abgesagt und ihr stattdessen geraten, ihre Berufserfahrung zu nutzen und einen historischen Roman zu schreiben, über Alte im Mittelalter. Die Idee finde ich großartig und fange sofort an zu planen, wo man das recherchieren kann, was ich als Leser von so einem Roman erwarten würde, wie man ihn anschließend in Lesungen vermarkten kann.
Marita fällt mir ins Wort: »Ich mach das nicht, ich bin doch nicht bescheuert!« Wie bitte? Ich verstehe nicht.
Marita sagt, für so einen Roman müsse man mindestens ein Jahr recherchieren.
»Ja, sicher, mindestens«, sage ich, »und dann mindestens ein Jahr schreiben, ist doch klar.«
Marita tippt sich an die Stirn, zeigt mir einen Vogel. In zwei Jahren, da sei sie nämlich längst im Süden und würde in der Sonne sitzen und als Schriftstellerin arbeiten. Mir platzt der Kragen: »Jemand, der Schriftsteller sein will, muss – verdammt nochmal – zuerst Bücher
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