Vom Mondlicht berührt
für das zwanzigste Jahrhundert übliche minimalistische Baustil spiegelte sich auch in der Innenausstattung: Alles betonte die Aussicht. Ich durchquerte das Zimmer und schob die Glastür auf, um auf die riesige Terrasse aus Holz zu treten, die hoch über dem Boden zu schweben schien und zum Meer hin lag. Wir befanden uns praktisch über dem Wasser. Die glitzernden Lichter von Villefranchesur-Mer erstreckten sich um eine u-förmige Bucht, auf der in Küstennähe Luxusjachten vor Anker lagen.
»Unfassbar, dass ihr hier wohnt«, sagte ich zu Charlotte, die sich neben mir gegen das hüfthohe Geländer gelehnt hatte. »Ihr sitzt ja praktisch in der ersten Reihe an einem der schönsten Orte der Welt.«
»Ich weiß!«, antwortete sie, den Blick aufs Meer gerichtet. »Wir leben hier wie im Traum. Ich sollte mich nicht beklagen, so weit weg von zu Hause zu sein. Ich vermisse euch bloß alle so sehr.«
»Na, wir sind ja hier, um dich aufzumuntern«, sagte ich und legte tröstend meinen Arm um sie. Gleichzeitig merkte ich, wie sehr ich ihre Gesellschaft vermisst hatte, und diese Erkenntnis versetzte mir einen scharfen Stich. Es machte zwar Spaß, mit Violette unterwegs zu sein, aber wir waren uns lange nicht so nah wie Charlotte und ich. Die Freundschaft mit Violette kostete Mühe. Die mit Charlotte war das Normalste der Welt.
Das Esszimmer hatte eine Glasfront, die an die Terrasse grenzte. Wir saßen in einem Halbkreis um den Tisch, damit wir beim Essen die spektakuläre Aussieht genießen konnten.
»Erzähl mir von Charles«, sagte Charlotte, kaum dass wir Platz genommen hatten.
»Ihm geht es gut, Charlotte.« Seine Stimme klang gleichzeitig beruhigend und aufrichtig. »Allem Anschein nach hat er vor ein paar Jahren bei einer unserer offiziellen Versammlungen jemanden aus Berlin kennengelernt und sich entschlossen, ihn zu besuchen.«
»Hey, ich erinnere mich an den Typen. Charles war ganz fasziniert von ihm. Der war ein Punk. Blaue Haare und jede Menge Piercings.«
Vincent hob eine Augenbraue. »Ja, die Leute in diesem Clan sehen alle so aus.«
»Charles etwa auch?« Charlottes Augen wurden groß.
Er lachte. »Steht ihm ziemlich gut.«
»Was?«, keuchte Charlotte. »Hast du ein Foto von ihm gemacht?«
»Nein, ich hatte genug mit Jean-Baptistes Auftrag zu tun. Da blieb keine Zeit, Charles’ Frisur zu fotografieren.«
»Seine Frisur ist uns doch egal«, lachte Geneviève. »Erzähl uns, wie es ihm geht. Was macht er dort? Wann kommt er zurück?«
»Ich glaube, er ist gerade genau am richtigen Ort.« Vincent lehnte sich vor und fuhr mit großem Eifer fort. »Dort in Berlin hat sich eine Gruppe desillusionierter junger Revenants zusammengefunden, die alle mit ihrem Schicksal hadern. Im Prinzip ist das so etwas wie die Anonymen Alkoholiker, bloß für ernüchterte Untote. Die halten ständig Sitzungen ab, in denen sie über ihre Gefühle sprechen.
Sie haben einen Teamleiter, der es sehr gut versteht, seine Leute zu motivieren. Er weist ganz häufig darauf hin, dass Revenants einen sehr wichtigen Platz im Zyklus des Lebens einnehmen. Dass wir Engel der Barmherzigkeit sind, die den Menschen, die noch nicht die Gelegenheit hatten, ihr Lebensziel zu erreichen, durch die Rettung genau diese Gelegenheit geben. Wenn Charles und die dortigen Anverwandten auf Patrouille sind, wirkt das wirklich so, als wären sie in höchster Mission unterwegs. Die sind richtig aufgedreht, es war toll, das mitzuerleben.«
Charlotte hatte mit geschlossenen Augen zugehört. Als Vincent verstummt war, lächelte sie wehmütig. »Ich kann überhaupt nicht sagen, wie froh ich bin, das zu hören. Es war schlimm für mich, nicht zu wissen, wo er ist und was er macht«, sagte sie. »Nach der ganzen Sache mit Lucien war er nur noch deprimierter, deshalb habe ich mir große Sorgen gemacht, dass er es einfach erneut probiert. Sich einen Numa sucht, der ihn auslöschen soll. Ich hatte geahnt, dass er diesmal weit weggehen würde, um uns nicht wieder in Gefahr zu bringen.«
Nun meldete sich Geneviève zu Wort. »Vielleicht fühlt er sich beengt von uns in Paris und sah keine Möglichkeit, sich zu entfalten, sich selbst zu finden. Es ist ja auch ziemlich heftig, über Jahrzehnte hinweg mit den immer selben wenigen Leuten zusammenzuleben.« »Da hast du recht«, stimmte Charlotte zu. »Es scheint ihm sehr gutzutun, auf sich allein gestellt zu sein. Aber ... meinst du, er kommt wieder zurück?«
»Soll ich ganz ehrlich sein? Ich habe keine Ahnung«,
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