Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
aus reiner Neugier. Und ich, meinen Weg in Logroño betreten,
um zweiundzwanzig Tage später physisch und psychisch kerngesund (mit
Interpretationsspielraum) genau hier anzukommen.
Langsam löst sich die Spannung,
und ich fühle mich ein wenig stolz. Nur bin ich etwas verwundert, dass gerade
so wenig los ist. Nicht einmal zehn Leute stehen auf dem Platz. So leer wie
jetzt um kurz vor zehn bleibt er sicherlich nicht ewig, und so fotografieren
wir uns schnell gegenseitig. Nach wenigen Minuten wird es schlagartig voller,
als hätten sie sich alle hinter den zahlreichen Säulen und in den schmalen
Seitengassen versteckt. Auch der Wiener Philipp und sein Mitpilger Achim
treffen ein. Für Philipp ist es bereits das zweite Mal, wie er mir erzählt. Da
Chris, Marcos und ich unbedingt noch ein Gruppenbild benötigen, darf er nun als
Fotograf herhalten. Ansonsten hätte ich noch ein Ministativ anzubieten, aber
dies nur nebenbei.
Anschließend machen wir uns auf
zum Pilgerbüro, das im Seitengässchen südlich der Kathedrale liegt. Dort geht
es zu wie in einer Postfiliale. Die Mitarbeiter sitzen hinter einer hässlichen
Holztheke und bearbeiten Pilger um Pilger. Fragen, Stempeln, Ausfüllen, der
Nächste bitte. Nach lediglich einer Viertelstunde Wartezeit halte ich meine
Compostela in der Hand. Während Chris und Marcos ihre lateinischen Namen
bewundern, stelle ich fest: Maori bleibt Maori. Der Name wird nämlich, soweit
möglich, auf Latein handschriftlich in die Urkunde eingetragen. Bei einem Namen
wie Hans Meyer noch gut zu handhaben, frage ich mich, ob der Job noch Spaß
macht, wenn ein Pilger mit polnische-srilankischem Doppelnamen auftaucht. Für
eine bescheidene Spende von einem Euro bekommt man auch noch ein
verschließbares Papprohr zur Aufbewahrung der Urkunde. Eine lohnenswerte
Investition, wie sich schnell herausstellt.
Als wir das Pilgerbüro
verlassen, läuft uns Adam aus Bielefeld über den Weg. Ihm geht’s prima, und
auch seine Mitpilger sind heil angekommen. Um seinen Zeitplan einhalten zu können,
hat er die Strecke von Sahagún nach León mit dem Zug zurückgelegt. Da sieht man
mal, was für ein Pensum wir gelaufen sind, dass wir ihn gestern noch eingeholt
haben. Ab Burgos haben wir durchschnittlich dreiunddreißig Kilometer am Tag
geschafft. Ich fauler Sack habe meinem Körper nie zuvor etwas auch nur
annähernd Ähnliches abverlangt. Daher lautet die wichtigste Notiz an mich: Wenn
ich keine Zweifel zulasse, erreiche ich meine Ziele.
Nach wenigen Minuten kommt uns
Evelyn entgegen, leicht unglücklich dreinschauend. Obwohl, eigentlich schaut
sie nie unglücklich. Skeptisch passt besser. Jedenfalls erklärt sie uns
enttäuscht: »This albergue is closed.« Nach einer kurzen Pause ergänzt
sie: »Closed forever.« Soso, das passt uns nicht wirklich. Aber eine
Lösung hält sie auch schon bereit: In Kathedralnähe befindet sich eine private
Herberge. Der hospitalero entpuppt sich als der verschollene Bruder von
John Rambo, ein lauter Grobian, nicht unfreundlich, aber etwas zu aufgedreht.
Für fünfzehn Euro pro Nase bekommen wir Schlafplätze in einem Fünf-Bett-Zimmer,
wo wir gleich unsere Sachen ausbreiten.
»Soll ich mir meine Schuhe
putzen?«, frage ich die anderen. Schließlich will ich nicht gleich sämtliche
Bars mit Schlamm einsauen, geschweige denn den Mietwagen.
Aber Chris und Marcos sagen
nur: »Ach Quatsch, lass sie dreckig. Du bist ein Pilger. Sollen sie dir doch
hinterherputzen.« Überredet, ich lasse sie dreckig.
Als wir aus der Herberge
treten, marschiert eine fröhliche Parade samt Blaskapelle an uns vorbei.
Langsam scheint der Tag doch noch ganz nett zu werden. Jetzt müssen wir uns
allerdings ein wenig beeilen: Die Pilgermesse beginnt um zwölf Uhr, und trotz
unserer differenzierten Haltung zur Kirche wollen wir natürlich unbedingt dabei
sein. Schon eine halbe Stunde vor Messebeginn drängen sich Touristen und Pilger
im Innenraum. Chris, Marcos, Evelyn und ich erhaschen einen menschenleeren
Quadratmeter und besetzen ihn umgehend. Von hier aus haben wir einen
fantastischen Blick auf den Mittelteil des Kirchenraumes sowie die Südflanke
des Querschiffs. Wir können sogar nach oben in das Gewölbe des Vierungsturms
blicken. Auf Höhe der Kirchendecke ist dort eine Stahlkonstruktion angebracht,
unter der an einem fünfunddreißig Meter langen Seil das riesige, versilberte
Weihrauchfass der botafumeiro, baumelt. Mein Wanderführer weiß zu
berichten, dass er »nur zu besonderen Anlässen
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