Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
mich
weit entfernt. In Santiago de Compostela bekommt jeder Pilger den Empfang, der
ihm zusteht. Demnach müsste ich weiter.
Fakt Nummer vier:
Ich wollte meine Wanderstöcke
in Monte do Gozo wegwerfen. Aber wie ich überdeutlich sehe, hängen sie nach wie
vor an meinem Rucksack.
Fakt Nummer fünf:
Ich wollte meine Schuhe putzen.
Habe ich aber nicht.
Fakt Nummer sechs:
Nie zuvor habe ich die
Wettervorhersage aufgerufen, wenn online war. Nur in Monte do Gozo. Und dort
wurde das Wetter bis wann angezeigt? Richtig, bis zum 24. September. Eigentlich
völlig überflüssig zu erwähnen, wie es die kommenden vier Tage werden soll.
Natürlich verziehen sich die Wolken heute (!), und es soll mindestens bis zum
24. September traumhaft sonnig bleiben.
Fakt Nummer sieben:
Auch Marcos hat seinen
Führerschein zu Hause gelassen. »Ich dachte, dass ich den hier nicht brauche«,
sagt er.
Fakt Nummer acht:
Chris würde sich freuen.
In den letzten Tagen habe ich
mich häufig nach einem besonderen Moment gesehnt, jetzt habe ich ihn, und er
überfordert mich. Neben mir liegt die Papprolle mit der Compostela und tut so
unschuldig, als wüsste sie von nix. Dabei wirkt sie auf mich wie ein
Staffelstab, der weitergetragen werden will. Je häufiger ich die acht Fakten
betrachte, desto schneller weicht der anfängliche Ärger zaghafter Verwunderung.
Alles nur Zufälle? Im Alltag strapaziere ich das Wort »Schicksal« extrem
selten, daran möchte ich auch jetzt nichts ändern. Aber wenn ich eines auf dem
Camino gelernt habe, dann, dass ich meinem Gespür für Entscheidungen trauen
kann. So häufig wie ich in den letzten zehn Jahren mit meinen Entscheidungen
richtig gelegen habe, brauche ich überhaupt nicht weiter zu grübeln: Ich gehe
weiter. Das teile ich Chris und Marcos auch umgehend mit. Okay, Chris freut
sich, aber Marcos kriegt wieder dieses Erdbeerjoghurtgesicht. Zugegeben, dafür
habe ich vollstes Verständnis. Vor gut fünfzehn Minuten dachten er und ich
noch, der Weg sei hier zu Ende: kein Wandern, keine Schmerzen, keine Auf- und
Abstiege, keine Herbergen mehr. Aber die Realität lautet: weitere
hundertzwanzig Kilometer wandern, knackige Sehmerzen, eine Menge Auf- und
Abstiege, vier weitere Herbergen. Trotzdem: Ich habe mich entschieden. Und auch
wenn er gerade vom Laufen wirklich die Schnauze gestrichen voll hat, bin ich
mir absolut sicher, dass er mitkommen wird. Er liebt es einfach zu sehr, sich
mit uns beiden durch die Pampa zu schlagen und permanent nach shells and
arrows Ausschau zu halten.
Nach einer für seine
Verhältnisse relativ kurzen Bedenkzeit verkündet er: »Okay, let’s do it.«
Den gewaltigen Seufzer überhöre
ich jetzt mal. Nachdem auch das geklärt ist, rufe ich Seb in Hamburg an und
verkünde nicht nur feierlich meine Ankunft, sondern auch die Pläne für die
kommenden Tage. Vor einem Jahr hatte er sich in Santiago gemeinsam mit drei
Pilgerfreunden einen Wagen gemietet; wer auch immer für mich zuständig ist,
offensichtlich soll ich einen eigenen, wesentlich längeren Weg bekommen. Seb
freut sich über meine Ankunft in Santiago fast mehr als ich, was mich wiederum
höchst erfreut.
Um kurz vor fünfzehn Uhr
verlassen Chris, Marcos und ich die Herberge und machen uns auf die Suche nach
Essbarem. Dabei entdecken wir etwas, was zu meiner neuen Lieblingsspeise werden
könnte: empanadas. Diese galicischen Hefeteigtaschen sind mit Tomaten,
Paprika, Gewürzen sowie einer Hauptzutat wie Thunfisch, Krake, Hackfleisch,
Chorizo oder Muscheln gefüllt und werden in panaderías verkauft. Sogar
an der Kathedrale von Santiago finden sie sich wieder: Am berühmten Pórtico da
Gloria verzehren zwei dargestellte Figuren empanadas. Da Chris und ich
neugierig sind, kaufen wir gleich mehrere Sorten und fressen uns pappsatt.
Marcos ist der lokalen Delikatesse, die in unterschiedlichsten Variationen die
spanischsprachige Welt erobert hat, längst verfallen. Die sind so lecker, der
absolute Wahnsinn.
Etwa zweieinhalb Stunden später
laufen Marcos und ich zum Bahnhof, um unsere Bahnfahrten zu buchen. Für meine
Rückfahrt habe ich von Seb einen wertvollen Tipp bekommen. Einer seiner
Pilgerfreunde ist letztes Jahr mit dem Nachtzug von Santiago nach Madrid
gefahren. Für mich die ideale Verbindung, denn mein Rückflug geht von Madrid
nach Berlin.
»Touristenklasse, Komfortklasse
oder erste Klasse?«, fragt mich der Mann am Schalter.
»Was ist der Unterschied?«,
will ich wissen.
»Erste Klasse
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