Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Einzelkabinen,
Komfortklasse Zwei-Bett-Kabinen, Touristenklasse Vier-Bett-Kabinen.«
Wie bitte? Die günstigste
Klasse hat vier Betten? Manchmal öffnet die Pilgerschaft einen die Augen. Ich
meine, ich hätte auch die Pilgerklasse mit vierundfünfzig quietschenden
Metallbetten gebucht, aber das Dreifache zu bezahlen, um in einer Bahn allein
zu schlafen, erscheint mir doch mehr als lächerlich. Für knapp über siebzig
Euro buche ich eine Nachtzugfahrt für den Samstagabend.
Abends hocken wir auf Chris’
ausdrücklichen Wunsch im örtlichen Döner- und Asia-Laden. Diese Kombination
habe ich das letzte Mal in Hettstedt, Sachsen-Anhalt, gesehen. Im Ernst.
Übrigens zeigt das Stadtwappen von Hettstedt Jakobus den Älteren, genau,
unseren Santiago. Bereits nach wenigen Minuten sind wir von lauter deutschen
Gästen umzingelt, und prompt fühlt sich Marcos zum wiederholten Male wie ein
Fremder im eigenen Land. Dabei sind seine linguistischen Fähigkeiten
erstaunlich. Durch hartes Sprachtraining ist er bereits in der Lage, praktisch
fließend Deutsch zu sprechen. Zu seinem Vokabular zählen »eins, zwei, drei«,
»Katzensprung«, »danke«, »bitte«, »nicht gut« und »Socken aus und waten!«.
Letzteres hat er Chris’ und meinem Wanderführer entnommen. Auf der allerletzten
darin beschriebenen Etappe von Fisterra nach Muxía gilt es, über im Wasser
liegende Quadersteine einen Bach zu durchqueren. »Socken aus und waten!« eben.
Blöd nur, dass er den Satz seit zwei Wochen beinahe täglich mehrmals
wiederholt, obwohl er die Etappe gar nicht laufen wird. Leider. Wie bereits
erwähnt hat er vor, am Donnerstagmorgen hierher zurückzukehren, um anschließend
mit der Bahn nach Madrid zu seinen Eltern zu fahren.
Ich bestelle mir ein Lahmacun,
wobei ich das Wort türkisch ausspreche. Ich bin gebürtiger Gelsenkirchener, in
dieser Hinsicht kann man mir so leicht nichts vormachen. Die asiatische
Bedienung versucht es trotzdem und korrigiert: »Lamakun.«
Lamakun? Meine junge,
asiatische, dumme Gans. Wenn schon klugscheißen, dann bitte in die richtige
Schüssel.
Je später der Abend, desto
lebhafter und ausgelassener geht es in den engen Altstadtgassen zu. Aus den
zahlreichen Bars und Restaurants ertönt Musik, Einheimische und Pilger
vermischen sich zu einer fröhlichen Einheit. Am liebsten würden wir auf die
restlichen Etappen pfeifen und uns vier Tage lang ausschließlich von Tapas und
Rotwein ernähren. Aber wir fühlen, dass für uns der Camino noch nicht beendet
ist.
Etappe 22: Monte do
Gozo — Santiago de Compostela (5,1 km)
Montag, 21. September 2009
Heute Morgen teilt Chris Marcos
und mir mit, dass sie die heutige Etappe etwas langsamer angehen und daher
nachkommen wolle. Wir sollen schon mal vorlaufen. Na ja, denke ich, sie wird
uns eh ziemlich schnell einholen. Als Marcos und ich um kurz nach sieben die
Herberge verlassen, liegt Santiago noch im Dunkeln. An der Kathedrale vorbei
geht es weiter nach Westen aus der Stadt. Heute möchten wir etwas früher
ankommen als üblich, damit wir noch ausreichend Zeit zum Einkaufen und Kochen
haben. Seit Tagen schon sprechen wir davon, abends gemeinsam zu kochen, aber
entweder finden wir keine Küche vor oder können uns einfach nicht aufraffen.
Kurz vor dem Ortsausgang verhindern wir durch Zuruf, dass sich zwei ältere
deutsche Pilgerinnen verlaufen. Sie haben den blassen gelben Pfeil auf dem
Boden übersehen.
Zunächst einmal müssen wir
einen Waldweg auf und ab wandern, und absurderweise knicke ich häufiger um, je
heller es wird. Da mir Marcos’ heutiges Lauftempo mal wieder so gar nicht
zusagt, trennen wir uns, und jeder läuft für sich. Ziemlich genervt vom
permanenten Umknicken gelange ich auf eine asphaltierte Straße und bemerke,
dass ich meine Gummi-Schutzkappen für die Wanderstöcke verloren habe. Die
Gurttasche des Rucksacks ist nicht richtig geschlossen; bei einem meiner mäßig
eleganten Knickse müssen sie wohl herausgekullert sein. Als ob das nicht schon
blöd genug wäre, wird anschließend fast nur noch auf hartem Asphalt gelaufen.
Und wenn nicht, geht es erneut durch einen der herrlichen Eukalyptuswälder, wo
ich bei einem der heute zahlreichen Abstiege ausrutsche und mir gleichzeitig
beide (!) Füße verdrehe. Dass ich trotzdem immer weiterlaufen kann, habe ich
wohl den allmorgendlichen Dehnübungen zu verdanken. Melanie ersuchte es mir
bereits in Belorado einzutrichtern, geschafft hat es schließlich Marcos in
Cacabelos: Jeden Morgen dehne
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