Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
zum Einsatz« kommt. Ich bin
gespannt.
Noch vor der eigentlichen
Pilgermesse tritt eine Nonne ans Mikrofon und beginnt, abwechselnd zu beten und
zu singen. Oder besser gesagt, sie singt vor, und die Schäfchen singen nach.
Mit kurzen, resoluten »Das geht sicher ein wenig lauter!« und »Sehr schön!«
bringt sie die Menge zum Schmunzeln und zum Singen. Als sie sich einmal in der
Melodie irrt, zeigt sie mit einem trockenen »Nein, das war jetzt falsch.
Nochmal!«, wie unverkrampft es auch in andächtigen Momenten zugehen kann. Bald
betreten mehrere Männer, wahrscheinlich hochrangige Priester, den Altarraum.
Nach einem Wechsel aus Predigten und geistlichen Liedern, die ich nicht
ansatzweise verstehe, liest einer der Herren eine Liste mit den Informationen
vor, wie viele von den am heutigen Morgen in Santiago eingetroffenen Pilgern wo
gestartet sind und welcher Nationalität sie angehören. Und siehe da, unter den
Pilgern, die heute Morgen angekommen sind, bin ich nicht nur der einzige aus Logroño,
sondern auch noch der einzige Japaner. Bei den spanischen Mütterchen, die
hinter mir stehen (und vermutlich nichts sehen), spricht sich das natürlich
schnell herum. Als wir Pilger gesegnet auf den Camino unseres »neuen« Lebens
geschickt werden, werde ich von ihnen geherzt und gedrückt wie ihr eigener
Sohn. Es gibt bestimmte Gefühle und Momente, die unbeschreiblich bleiben,
völlig gleich, wie lange man nach Worten sucht. Wenige Minuten später machen
sich mehrere Männer am botafumeiro zu schaffen, und ehe wir uns
versehen, fliegt uns unter der Begleitung einer bombastischen Orgelmusik das
rauchende Fünfzig-Kilogramm-Fass um die Ohren. Unglaublich. Einfach
unglaublich.
Nach der bewegenden Messe suchen
wir das Tourismusbüro auf. Neben den üblichen Informationen für Touristen
bietet es zahlreiche Dienstleistungen für Pilger an, beispielsweise
Flugbuchungen und Beratungsgespräche in unterschiedlichen Sprachen. Die
Angestellten sind für nahezu sämtliche Probleme und Anfragen gerüstet. Marcos
und ich besorgen uns Wegbeschreibungen zu Autovermietungen und zum Bahnhof.
Anschließend kehren wir zur Herberge zurück. Nun lungern Chris, Marcos und ich
erschöpft auf unseren Betten herum. Wir unterhalten uns ein wenig und kommen
auf das Thema Führerschein zu sprechen. Marcos beschreibt den spanischen, Chris
den deutschen. Was reden wir hier herum? Ich habe doch meinen dabei, da kann
ich Marcos ja gleich zeigen, wie ich als Siebzehnjähriger ausgesehen habe. Ich
durchsuche meine Hüfttasche. Pass da, Rot-Kreuz-Ausweis da, Krankenkassenkarte
da, Kredit- und EC-Karte da. Kein Führerschein. Ich suche noch einmal. Und noch
einmal. Ich räume alles komplett aus. Kein Führerschein. Ich durchwühle meinen
Rucksack. Ohne Erfolg. Ich schütte den gesamten Rucksackinhalt auf dem Bett
aus. Kein Führerschein. Ich drehe durch! Was soll denn aus unserem
Mietwagenplan werden? Die kommenden vier Tage? Eine Rundfahrt über Fisterra,
Muxía, A Coruña und Lugo? Küstendörfer abklappern und frische Meeresfrüchte
schlemmen? Vor meinem geistigen Auge sehe ich sämtliche, mit Postkartenidylle
gefüllte Wölkchen Zerplatzen. Typisch Maori, denke ich, meine Schusseligkeit
kennt keine Grenzen und macht auch vor dem Camino nicht Halt. Ich würde mich am
liebsten verprügeln, aber dazu fehlt mir die Kraft. Also sage ich einfach nur:
»Marcos, ich habe meinen Führerschein vergessen.«
Ich ernte einen Blick, den ich
nie vergessen werde: den Erdbeer-Joghurtblick. Vielleicht will Marcos mich ebenfalls
verprügeln. Glück gehabt, ihm fehlt genauso die Kraft. Aber wenn sich hier
jemand um die Stimmung sorgt, der kennt Chris noch nicht. Die flötet nämlich
fröhlich: »Ja, dann müsst ihr wohl weiterlaufen.« Okay. Her mit den Fakten:
Fakt Nummer eins:
Ich wollte am 24. September
ankommen. Heute ist der 20., ergo vier Tage früher als geplant. Und es gibt
noch genau vier Tagesetappen: Negreira, Olveiroa, Fisterra, Muxía.
Fakt Nummer zwei:
Um Gewicht zu sparen, habe ich
vor der Abreise alle überflüssigen Teile meines Wanderführers abgeschnitten und
entsorgt, beispielsweise die Etappenbeschreibungen von den Pyrenäen bis
Logroño. Da ich allerdings nicht aufs Stichwortverzeichnis verzichten wollte,
konnte ich den hinteren Teil nicht einfach wegwerfen; alle Etappen bis Muxía
sind also noch drin.
Fakt Nummer drei:
Der Einmarsch in Santiago war
alles andere als ein würdiges Finale. Von einem Ende eines Weges fühle ich
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