Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
heitere Lachen. Nur der Sprengmeister lässt sich nicht
erschüttern. Er donnert weiter, als gäbe es etwas zu gewinnen. Völlig
verzweifelt verkriecht sich der Bettnachbar in seinen Schlafsack.
Übersättigt und glücklich liege
ich bereits im Dämmerschlaf, natürlich mit meinen lebensrettenden Ohrstöpseln
in den Gehörgängen, als mich irgendein Vollidiot wachrüttelt. Ich öffne die
Augen, und mein gesamter Körper wird vom Gefühl der Abscheu durchflutet. Vor
mir steht doch leibhaftig... Simon der Denker! Mit einem milden Lächeln, als
wäre ihm irgendeine Racheaktion gelungen, sagt er: »Hi.« Mehr nicht. Er dreht
sich um und legt sich schlafen. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Ich stehe
kurz davor, etwas sehr Unchristliches zu tun und mitten in der albergue »Santa María de Carbajal« ein Blutbad anzurichten. Ich bin völlig gelähmt vor
Wut. Was erdreistet sich diese Wurst, mir dermaßen auf die Eier zu gehen? Nicht
nur, dass jedes seiner Wörter durch ein unausgesprochenes ausgetauscht werden
könnte, ohne an Gehalt zu verlieren, kann ich es auf den Tod nicht ausstehen,
geweckt zu werden. Langsam wird er für mich zu einer richtigen Plage. Ab sofort
werde ich ihn so behandeln, wie er es verdient hat, sonst wird er in der
Kathedrale von Santiago auf meinem Schoß sitzen. Garantiert.
Etappe 11: Reliegos — León
(25,2 km)
Donnerstag, 10. September 2009
Gerade aufgestanden, es ist sechs
Uhr sieben. Das Erste, was ich mitbekomme: Der Denker wird von einem
Franko-Kanadier nach seiner Nationalität gefragt.
»Where are you
from?«, fragt der Kanadier.
Simon: »Hä?« Genau so. Er sagt
wirklich »Hä?«, statt »Sorry?, oder »Hm?«
Kanadier: »Where are
you from? Are you Dutch?«
»Hä?«
»Are you Dutch?«
»Deutsch? Äh... Yes. I am
Dutch .«
Der Kanadier wirkt zufrieden. »Oh,
nice.«
Zwischen Hannover und Holland
liegen dreißig Sekunden und ein Idiot.
Marcos und ich hängen am engen
Frühstückstisch, die deutsche hospitalera ist unglaublich nett und trotz
resoluten Charakters (»Bist du fertig mit Frühstücken? Dann raus hier, draußen
warten die Nächsten!«) schon am frühen Morgen bestens gelaunt. Im Gegensatz zum
Schlafsaal verbreitet das gemeinsame Frühstück mit all den Pilgerinnen und
Pilgern eine sehr familiäre Atmosphäre. Prompt spricht uns eine junge,
bebrillte Kurzhaar-Kanadierin an. Dass wir sie vorher noch nie gesehen haben
ist kein Wunder, schließlich ist sie ein waschechter Newbie. Gillian, so heißt
sie, ist neunundzwanzig, stammt aus Toronto und tritt bald eine neue
Arbeitsstelle in Sevilla an. Davor möchte sie noch drei Wochen lang über den
Camino wandern. Sie schnackt fröhlich drauflos und ist mir auf Anhieb
sympathisch. Auf mich wirkt sie recht clever, was den positiven Eindruck noch
verstärkt.
Nichtsdestotrotz machen Marcos
und ich uns zu zweit auf den Weg, zu viel Geschnatter vertragen Morgenmuffel
wie wir um sieben Uhr noch nicht. Dank einer sehr aufmerksamen Frau, die
offensichtlich auf dem Weg zur Arbeit ist, werden wir vor der Kathedrale vor
einem enormen Umweg bewahrt. Wenige Minuten später an der Real Colegiata
Basílica de San Isidoro, einer der wichtigsten romanischen Kirchen überhaupt,
rufe ich einen herumirrenden Pilger herbei und schicke ihn auf den richtigen
Weg. Jeder hilft jedem, Alltag auf dem Camino. Nachdem wir die Altstadt hinter
uns gelassen haben, laufen wir etwa eine Stunde aus León heraus. Bald
durchqueren wir eine ziemlich verfallene Gegend, Graffiti prangern
Arbeitslosigkeit und Prekarität an. An einer Hauswand steht »Mobbel«. Keine
Ahnung, was das bedeutet, aber es bereitet mir für einige Minuten einen
Heidenspaß. Mobbel. Auf jeden Fall besser als Arbeitslosigkeit und Prekarität.
Es wird ein wenig hügelig, und
wenn wir uns umdrehen, liegt uns León zu Füßen. Über den Dächern der Stadt
klettert die Sonne den Himmel hinauf. Während ich die unbeschreiblichen Rottöne
genieße, leidet Marcos wieder einmal schwer unter der schockierend hässlichen
Architektur. Jetzt laufen wir an preisgünstig aus dem Boden gestampften
Gewerbehallen vorbei, bevor uns die N-120 wieder hat. Bis zu unserem heutigen
Etappenziel San Martin del Camino geht es an der Nationalstraße entlang, und
ausnahmsweise ist es uns heute völlig gleich. Zwar existiert eine Alternativroute
über Villar de Mazarife, aber das letzte Mal, als wir der Empfehlung des
Wanderführers gefolgt sind, wären wir beinahe draufgegangen. Diesmal wählen wir
die
Weitere Kostenlose Bücher