Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
etwas wie eine
Karriere aufbauen kann. In ihren Augen bin ich den umgekehrten Weg gegangen:
Studium, Arbeitsleben, entdecken. Ihr Weg: erstes Arbeitsleben als
Versicherungs-Maklerin, Welt entdecken, zweites Arbeitsleben und Studium.
Danach, so plane sie, wolle sie wieder die Welt bereisen, vielleicht mal den
Camino ab Saint-Jean gehen. Und dann ab nach Neuseeland, in die Antarktis, quer
durch Afrika, am liebsten alles zusammen und gleichzeitig. Wenn ich Zeit habe,
werde ich mich anschließen aber ganz sicher.
Und jetzt müssen wir alle für
einen Moment ganz tapfer sein. Die folgende Geschichte wird nicht jedem
gefallen, aber so ein Erlebnis brennt sich ein, wie alles unvorstellbar
Schreckliche. In El Ganso kehren wir in der Bar »Merendero La Barraca« ein und
gönnen uns eine eiskalte Cola. Die ist so kalt, dass sie teilweise noch
gefroren ist. Die Toiletten der Bar befinden sich in einem halbherzig
abgetrennten Bereich. Vor allem akustisch sind sie nur unzureichend separiert,
was dazu führt, dass der ganze Raum am Stuhlgang eines jeden Gastes teilnimmt,
der seine Rohrpost etwas zu laut abschickt. Und gerade jetzt lässt jemand
seinen allernatürlichsten Bedürfnissen freien Lauf, so dass mir persönlich
äußerst unwohl wird. Früher haben Senatoren auf dem Lokus nebeneinander
scheißend über Tagespolitik diskutiert, keine Frage. Allerdings finde ich, dass
es reicht, die Pilgertradition wiederzubeleben. Noch ältere Traditionen sollte
man einfach mal in den Geschichtsbüchern ruhen lassen.
Hinter El Ganso laufen wir
immer noch an der Landstraße entlang, allerdings tauchen auf der rechten Seite
des Camino dicht bewachsene Wälder auf. Bald geht es in ein Waldstück hinein,
und die Steigung nimmt drastisch zu. Damit man sich nicht in irgendwelche
Jagdreviere verläuft und abgeknallt wird, hält ein Zaun die Pilger davon ab,
sich hier ins Gestrüpp zu schlagen. An ihm hängen wieder unzählige Kreuze aus Zweigen
oder Papier und sogar ein Bilderrahmen mit einem Porträtfoto eines Mannes. Kurz
vor Rabanal del Camino steht ein Bauschild mit der Aufschrift »Peligro Obras «
sowie mehrere Übersetzungen. Frei übersetzt bedeutet »peligro obras« »gefährliche Arbeiten«. Geschrieben haben sie aber »Gefahr-Arbeiten«. Noch
besser finde ich allerdings die Herleitung ins Japanische. Ich wette, sie haben
immer eins zu eins in die nächste Sprache übersetzt, anders kann ich mir das
absurde Ergebnis nicht erklären. Unter dem Deutschen steht nämlich auf
Englisch: »Danger Works«. Und da »works« sowohl die Plural von
Arbeit als auch »arbeitet« bedeutet, steht dort auf Japanisch: »Kiken wa
hataraku«, zu Deutsch: Die Gefahr arbeitet. Ich weiß ganz genau, wo die
Gefahr arbeitet, nämlich im Büro des Typen, der für die Übersetzungen zuständig
ist. Kann es so schwer sein, mal ein paar Bekannte zu fragen oder im Internet
nachzusehen, ob die Übersetzungen denn stimmen? Was soll denn der
Durchschnittsjapaner denken, wenn er auf einem Bauschild liest: »Die Gefahr
arbeitet«? Der bekommt doch fürchterliche Angst. Für wen arbeitet die Gefahr?
Lauert sie bereits irgendwo im Gebüsch? Und vor allem: Woran arbeitet sie? Dass
ich nicht heil ankomme? Schnell weiter, bevor mich die Gefahr erwischt.
In Rabanal del Camino, bereits
seit dem Mittelalter der letzte Ort vor dem beschwerlichen Anstieg in die
Berge, legen Gill und ich eine weitere Rast ein. Wir setzen uns in die örtliche
Bar und essen eine Kleinigkeit. Dazu trinken wir Bier, was bei mir recht kompromisslos
reinhaut, wie ich verwundert feststelle. Die Bar ist rappelvoll, das Geschäft
brummt. Schon auf dem Weg hierher sind wir überdurchschnittlich vielen Pilgern
begegnet. Da sich Rabanal als Übernachtungsort großer Beliebtheit erfreut,
staut sich hier der Pilgerstrom, und die Kassen klingeln. Gill und ich
allerdings haben heute noch zehn Kilometer Wegstrecke und insgesamt
zweihundertvierzig Höhenmeter zu überwinden, so dass wir das Lokal nach unserer
kurzen Snackpause wieder verlassen. Bevor wir weiterwandern, suchen wir den
örtlichen Supermarkt auf, der aus einem überschaubaren Raum mit recht
willkürlich zusammengestellten Artikeln besteht. Wir decken uns mit
Wasserflaschen ein und wollen uns auf den Weg Richtung Foncebadón begeben, als
ich feststelle, dass eine der Gummi-Schutzkappen für meine Wanderstöcke fehlt.
Diese sind überaus wichtig, um nicht von wütenden Mitpilgern erschlagen zu
werden; die Kappen verhindern auf Asphalt das nervige
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