Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Tisch mit dem bodenlosen Magen bin. Bei jedem Gang
werden die Reste zu mir geschoben, denn Carlos serviert den nächsten erst dann,
wenn der vorherige komplett verputzt ist. Kurzum: Ich esse wie ein
Wahnsinniger. Mit mehr Gewicht im Magen als auf den Rücken könnte der morgige
Aufstieg nach O Cebreiro noch einmal richtig spannend werden.
Lediglich sechzehn Pilgerinnen
und Pilger haben sich in das beschauliche Ruitelán verirrt. Daher bekommen die
meisten von uns ihr eigenes Stockbett — ein wahrer Luxus. Es ist bereits die
fünfte Herberge in Folge, die mir gefällt, und die dritte in Folge, die mich
schier begeistert. Ein wahrhaft treffsicherer Tipp von Tomás Helfer. Inzwischen
ist mein Knöchel merklich abgeschwollen, und ich fühle mich wesentlich fitter
als in Calzadilla de la Cueza oder Reliegos. So entscheide ich mich dafür, mit
Chris und Marcos weiterzulaufen. Knöchel hin oder her, wir gehören einfach
zusammen.
Etappe 16: Cacabelos — Ruitelán
(28,0 km)
Dienstag, 15.
September 2009
Ich schlafe tief und fest, und
hätte Marcos mich nicht geweckt wahrscheinlich hätte ich stundenlang
weitergeschlafen. Mittlerweile habe ich mich an die Ohrstöpsel gewöhnt, so dass
ich auch unter schnarchenden Mitpilgern meine Ruhe finde. Als ich die Stöpsel
herausnehme, höre ich endlich die Weckmusik, die hier vermutlich allmorgendlich
ertönt. Da ich wie bereits erwähnt kurz nach dem Aufstehen weder Appetit noch
Muße für ein ausgedehntes Frühstück verspüre, verzichte ich darauf und packe in
Rekordzeit meine Sachen zusammen. Zugegeben, ich habe nicht besonders viel dabei,
aber da mein Rucksack auf unnötige Reißverschlüsse und Taschen vollständig
verzichtet, muss ich all meine Sachen in der richtigen Reihenfolge verstauen,
damit die Gewichtsverteilung stimmt. Einmal hatte ich meinen Kulturbeutel nicht
sorgfältig genug verstaut, so dass sich während des Laufens die Zahnbürste in
meinen Rücken bohrte. Eine Konstellation, die im Alltag eher selten vorkommt.
Ich fühle mich sensationell.
Mein Knöchel ist vollständig abgeschwollen, meine Waden und Kniegelenke fühlen
sich top an, ich kann es kaum erwarten loszuwandern. Trotzdem fällt es mir
schwer, Carlos’ albergue nach nur einer Nacht wieder zu verlassen. Aber
der Weg ruft uns, und wenn der ruft, wird gelaufen. Gemeinsam mit Chris und
Marcos verlasse ich die Herberge und trete in die Dunkelheit. Mit der
Stirnlampe kommen wir recht flott voran, und trotz aller Vorurteile gegenüber
den ganzen Affen, die blind durch die Gegend stolpern, um gegen elf, zwölf Uhr
am Etappenziel ein Bett zu sichern, gefällt mir diese Art der Fortbewegung
heute Morgen. Wahrscheinlich liegt es an meiner Herkunft. Als Gelsenkirchener
bin ich auf Kohle geboren; kaum bindet man mir eine Lampe auf den Kopf, fühle
ich mich wie zu Hause.
Nach knapp über einer Stunde
erreichen wir unsere heutige Café-con-Leche-Town La Faba. In der vergangenen
Nacht hat es geregnet, und die Wege sind leicht siffig. Die morgendliche Sonne
lässt den Siff wenigstens einigermaßen romantisch aussehen. Bevor ich die
kleine Bar zu sehr füllt, sind wir auch schon wieder auf dem Weg zum Gipfel.
Verglichen mit dem camino duro gestaltet sich der heutige Weg als wenig
spektakulär. Trotzdem bleiben unsere Blicke häufiger neben der Strecke, der
Ausblick ist wunderschön. Noch steht die Sonne tief und erzeugt auf den weiten,
dicht bewachsenen Hügellandschaften grandiose Schattenspiele. Kurz bevor wir
den Grenzstein von Galicien erreichen, verdichten sich über unseren Köpfen
merklich die Wolken. Und als reiche der keltische Einfluss auf die galicische
Kultur nicht, beginnt es wenige Sekunden später auch noch zu regnen. Wie auf
Kommando zieht dichter Nebel auf, und wir fühlen uns sofort nach Schottland
versetzt. Am Grenzstein schießen wir ein Erinnerungsfoto. Endlich kann ich das
Ministativ für meine Kamera benutzen. Chris macht sich total lustig darüber,
dass ich ein Ministativ dabei habe, aber hey, das sind gerade einmal
siebenunddreißig überflüssige Gramm. Ich denke, ihr Rucksack gibt mehr her. Und
jetzt habe ich das Teil sogar benutzt. Völlig unnötig zu erwähnen, dass das
Foto fantastisch geworden ist, oder? Bald tauchen zwei weitere Pilger auf, die
aber kein Ministativ brauchen, die haben ja uns.
Nun sind wir in Galicien, der
nordwestlichsten Autonomen Gemeinschaft Spaniens. Das bedeutet, dass sowohl der
nördlichste als auch der westlichste Punkt Festlandspaniens in Galicien
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