Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
bedeutungsärmsten
Seitengässchen besitzt einen eigenen Stempel. Allein heute bekomme ich fünf
davon in den Pilgerpass gedrückt; man kann denen nur mit Mühe ausweichen. Als
wir die wenig charmante Stadt vollständig durchquert haben, fällt uns auf, dass
wir keine einzige Bank passiert haben. Die fürs Geld, nicht für ’n Arsch.
Marcos und ich benötigen dringend Bargeld. Sarria liegt uns zu Füßen, aber ohne
Geld eben nur wörtlich und kein bisschen metaphorisch. Auf Nachfrage in einem
bescheiden dimensionierten Shop, dessen Hauptgeschäftsfeld sich uns nicht
erschließen mag, bekommen wir die niederschmetternde Antwort zu hören: Wir
müssen komplett zurücklaufen — den ganzen verdammten Hügel hinunter. Chris und
ich stöhnen auf. Rein platonisch, versteht sich. Uns bleibt nichts anderes
übrig. Wir stellen unsere Rucksäcke in einem Café ab und laufen zurück.
Herrlich, diesen Berg herunterzulaufen, während uns lauter Sarria-Pilger
entgegenkommen. Sie lächeln uns an, aber in ihren Gesichtern kann ich es
ablesen: »Die Ärmsten. Wahrscheinlich das Sweatshirt in León vergessen.«
Beim erneuten Aufstieg durch
die Altstadt hilft uns das Bargeld keinen Meter weiter, aber immerhin können
wir uns danach die nötigen Flüssigkeitsreserven leisten. Nach der
außerplanmäßigen Anstrengung legen wir dann doch lieber eine kurze Rast ein.
Das Café, deren Mitarbeiter freundlich auf unsere Rucksäcke geachtet haben,
kommt uns da gerade recht. Chris, Marcos und ich bestellen uns drei Säfte der
Orange, por favor. Als Marcos seinen frisch gepressten O-Saft
entgegennimmt, trauen Chris und ich unseren Augen nicht: Da liegt doch
tatsächlich eine Packung Zucker bei. Bei einem frisch gepressten Fruchtsaft!
Die spinnen, die Galicier.
Frisch gestärkt verlassen wir
gegen dreizehn Uhr Sarria. Seit wir in Galicien pilgern, liegen die
Außentemperaturen um die Mittagszeit bei gut zwanzig Grad. Das spart nicht nur
viel Nerven, Energie und Wasser, sondern auch Sonnencreme. Wir entdecken eine
Menge Newbies, und erwartungsgemäß verringern sich die wirklich einsamen
Momente. Allerdings hält sich der Andrang in Grenzen; ich hatte es mir
wesentlich schlimmer ausgemalt. Liegt wahrscheinlich auch an der Uhrzeit. Ich
vermute, dass es hier heute Morgen noch ganz anders ausgesehen hat. Apropos Aussehen,
Galicien sieht völlig anders aus als der bisherige Weg; das absolute Gegenteil
der brütend heißen Meseta. Statt endloser gelbbrauner Weiten durchlaufe ich
intensiv duftende Wälder in Millionen fein nuancierten Grüntönen, es geht über
uralte Hohlwege zwischen riesigen, knorrigen Baumstämmen entlang, hin und
wieder überquere ich idyllisch dahinplätschernde Bachläufe. Eindrücke, die ich
allem Möglichen zugeordnet hätte, nur nicht Spanien. Obwohl ich seit heute
Morgen bereits weit über fünfundzwanzig Kilometer zurückgelegt habe, fühle ich
mich bestens. Meine Knöchel, meine Waden, meine Knie, alles top, alles
beschwerdefrei. Heute bin ich es, der Chris und Marcos davonläuft. Kurz nach
der winzigen Siedlung A Brea erreiche ich den Kilometerstein mit der Aufschrift
»K. 100«, auf dem sich Steinchen und kleine Zettel häufen. Der etwa einen Meter
zwanzig hohe Betonsockel ist von oben bis unten mit Pilgergrüßen,
Liebeserklärungen und Schwachsinn vollgeschmiert. »Stop Chemtrails« steht da beispielsweise. Die sogenannte Chemtrail-Theorie zählt zu den
absurdesten Verschwörungstheorien und wurde bereits von zahlreichen
Wissenschaftlern in ihre Einzelteile zerlegt. Chemtrail-Anhänger glauben, dass
Flugzeuge über spezielle Vorrichtungen oder per manipuliertes Kerosin zusätzliche
Chemikalien in die Luft sprühen, etwa Aluminium oder Barium, um beispielsweise
das Klima zu manipulieren. Ja, manche Menschen haben einfach zu viel Zeit. Der
Chemtrail-Pilger hat sogar zwei knuffige Flugzeuge auf den Kilometerstein
gemalt und ein eindringliches »Stop it!« daruntergeschrieben. Wenn ich
jetzt die Wahl hätte, entweder an Chemtrail zu glauben oder an die
Bielefeld-Verschwörung, ich würde mir zumindest eine Minute Bedenkzeit
einfordern. Glücklicherweise pilgern auch angenehmere Zeitgenossen gen
Santiago, beispielsweise die zwei jungen Männer, die gerade vorbeikommen.
»¡Buen camino!«, grüßt einer der beiden und
zückt seine Kamera. Auf Deutsch fragt er mich: »Würdest du vielleicht ein Foto
von uns machen?«
Selbstverständlich tue ich ihnen
den Gefallen, anschließend schießt einer von ihnen ein Foto von mir
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