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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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daran.
    Er lachte. Ich sah ihn immer noch nicht, doch es klang gut. Ein freies und junges Lachen. Er war ja auch noch wirklich klein, ein Baby.
    – Ja, das könnte geschehen, aber zu Ihrem Trost: Sie werden es wenigstens nicht bemerken.
    – Ja, weil ich tot bin.
    – Nein, weil Sie erblindet sind, vergessen?
    Und ich hörte, wie er mit einer Papiertüte raschelte. Ich wollte mich nach ihm umdrehen, aber da saß er auch schon neben mir und hielt mir meine Papiertüte mit meinem Kuchen vor das Gesicht.
    Sehr forsch für sein Alter, dachte ich, ob er wollte, dass ich danach schnappte? Doch er rutschte ein Stück von mir weg, legte den Kuchen zwischen uns und sagte:
    – Darf ich mich setzen?
    – Nun, das tun Sie ja bereits.
    Ich hörte mich spießig und säuerlich an, also lächelte ich ein spießiges und säuerliches Lächeln und fuhr fort:

    – Wenn Sie nicht mehr bei mir sind, können wir uns ruhig auch außerhalb des Chores duzen.
    Er schaute auf seine Schuhe, braunes Wildleder, und schüttelte den Kopf.
    – Ja, aber wenn ich nicht bei Ihnen bin, besteht kein Anlass, überhaupt mit dir zu sprechen.
    – Mein Patient, lieber Herr Hoffmann. Wenn Sie nicht mehr mein Patient sind. Und Sie haben mich sehr gut verstanden, und jetzt merke ich, wie ich gerade sehr, ja, wirklich sehr müde werde und auf der Stelle diesen Kuchen essen möchte, und wie ich immer weniger Lust dazu verspüre, Ihnen ein Stück davon anzubieten, was ich vorhin tatsächlich noch beabsichtigte, eine Art Friedenskuchen, verstehen Sie, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich an Frieden noch interessiert bin.
    Er schwieg, sah mich an und lächelte ein bisschen schief, aber tapfer, ich schaute zurück, unsicher, ob ich genervt oder belustigt war. Er hatte braune Augen, und auf der dünnen Haut um die Lider herum waren ein paar helle Sommersprossen. Das Lächeln verschwand plötzlich. Seine Augen tasteten mein Gesicht ab und blieben an meinem Mund hängen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Mein Herz schlug rascher. Ich musste mich darauf konzentrieren, keine Signale auszusenden, mir nicht mit der Zunge über die Lippen zu fahren, obwohl sie sich trocken anfühlten, nicht mit der Hand in meinen Haaren zu wühlen und dergleichen. Also versuchte ich, möglichst steinern zu sein. Kurz bevor ich mit dem Anleger eins zu werden begann, wandte er sich langsam ab, schaute hinaus aufs Wasser und schüttelte den Kopf.
    Ich öffnete die Tüte, holte das Stück Kuchen heraus, die dicke Schokoladenkugel schimmerte verheißungsvoll aus dem Inneren des hellen Teigs. Ich legte den Kuchen auf das Papier, füllte Tee in den Deckel der Thermoskanne und blickte meinerseits hinaus aufs Wasser.

    – Es ist angerichtet.
    – Stimmt.
    Er sprach leise, sah mich an, fast zornig.
    Wir spielten hier ein altes Spiel, und einen Augenblick hatte ich sogar gedacht, er würde mich küssen, vielleicht hatte ich es mir sogar gewünscht, aber ich war wirklich müde und traurig, und so ließ ich seine Bemerkung einfach ins Wasser fallen wie einen Kieselstein und wartete, bis sich die Ringe und Wellen geglättet hatten.
    Schweigend aßen wir den Kuchen, die dicke Schokokugel teilte er mit meinem Taschenmesser in zwei Hälften. Es gefiel mir, dass die Hälften gleich groß waren, dass er nicht mir eine große und sich eine kleine zuteilte oder gar umgekehrt. Das Zeug in der Kugel war klebrig, er leckte gedankenverloren das Taschenmesser ab, merkte, dass ich es bemerkte, und trocknete es schnell an seinem Hemd ab. Ich musste lachen.
    Er stand auf.
    – Ellen.
    Ich schaute auf, da schüttelte er noch ein letztes Mal den Kopf und ging vom Anleger. Ich blieb da, trank meinen Tee und fegte mir die Krümel von den Beinen. Bevor die Enten angeschwommen kamen, hatte schon ein dunkler Fisch die Krümel von unten weggesaugt, ein kurzes Schlürfen, und das Wasser war schwarz und still. Es wurde kühler hier unten, doch Wind kam nicht auf, kein Wind.
    Der Wind ist immer da in dieser Stadt. Er bläst ununterbrochen. Im Sommer ist er kühl, wühlt in den Blättern der Bäume und dreht ihre hellen Unterseiten nach oben. Nur in der S-Bahn merkt man, wie heiß es wirklich ist. Es gefällt mir, dass in Hamburg sogar die feinen alten Damen die Fensterklappen in den öffentlichen Verkehrsmitteln aufreißen und sich mit ihren Hüten in die Zugluft setzen.Gibt es einmal keinen Wind, nennen das die Bewohner hier »schwül« und haben Kreislaufprobleme. Sie schlafen schlecht, zu viel, zu wenig, wollen

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