Vom Schlafen und Verschwinden
lange. Schließlich kam er zurück ins Wohnzimmer, bleich, und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, sah er alt aus.
– Du musst dich von Pat trennen. Wir verklagen ihn.
– Ich kann nicht.
– Wieso nicht? Du musst.
– Ich schulde ihm Geld.
– Na und?
– Viel Geld.
– Wie viel um Himmels willen muss es sein, dass du das hinnehmen kannst?
– Genug. Wenn ich ihn feuere oder verklage, wird er es einfordern.
Und da endlich hatte ich jemanden gefunden, den ich an diesem Abend ohrfeigen konnte. Declan hielt mich, so gut es ging, auf Armeslänge von sich fern. Wir waren nahezu gleich groß, und ich schlug nach ihm, bis ich meine Hände nicht mehr spürte.
Er trennte sich schließlich doch von Patrick. Patrick wollte ihm seine Schulden erlassen, wenn er ihn nicht anzeigte. Declan bat mich, diesen Kuhhandel anzunehmen. Als er vor mir stand und mich das fragte, war er ein Fremder. Er tat mir schon wieder leid. Patrick zeigte ich trotzdem an.
Anne kam bei uns vorbei und entschuldigte sich. Declans Schulden seien beglichen, sagte sie beim Abschied. Und sie ziehe nächste Woche nach Cork zu ihren Schwestern.
Drei Tage später wusste ich endgültig, dass ich schwanger war. Ich war nicht überrascht, aber die Schwangerschaft durfte ich trotzdem erst fünf quälende Wochen später abbrechen.Ich wusste nicht genau, warum. Vielleicht musste der Fötus eine bestimmte Größe haben, vielleicht musste man warten, ob er nicht von allein wieder verschwinde, vielleicht wollte der deutsche Staat, dass man einige Wochen nachts wach lag und grübelte. Vielleicht hatte er ja recht damit. Was immer der deutsche Staat wollte, es war weniger als das, was der irische verlangte. So war ich irgendwann nicht mehr schwanger, und Orla und ich zogen nach Grund. Orla ließ sich die Haare wieder wachsen, und unter ihren rostbraunen Locken sah man den keltischen Knoten nur, wenn man wusste, dass er da war. Manchmal schaute ich nach ihm. Die feinen Striche schimmerten schwarzblau auf Orlas weißer Kopfhaut.
Erst viel später fragte ich sie, ob die hundert Euro, von denen die Hälfte ein Gutschein von HMV gewesen sei, nicht zu wenig gewesen wären für diese außergewöhnliche Tätowierung. Und Orla erzählte, nur die Chefin, eine von oben bis unten tätowierte und gepiercte Frau mit langen schwarzen Haaren und großem Dekolleté, sei in der Tätowierstube gewesen. Sie habe Orla zugehört und sie dabei aus stark getuschten Augen gemustert. Dann habe sie gefragt:
– Du brauchst diese Tätowierung jetzt?
Orla nickte.
– Du hast etwas erlebt, etwas, sagen wir mal, das dich verändert hat, und deshalb kannst du jetzt nicht mehr so aussehen wie früher. Ist es so?
Orla nickte noch einmal.
– Sag mir nur, möchtest du die Tätowierung, um dich stärker zu fühlen oder um zu zeigen, wie stark du bist?
Orla überlegte und sagte:
– Um zu zeigen, wie stark ich tatsächlich bin.
Die Chefin nickte.
– Na, komm, setz dich hin, alle sollen sehen, dass du schön und stark bist.
Es schien Orla, als spreche die Frau mehr zu sich selbst als zu ihr. Das Rasieren der Kopfhaut kitzelte, aber Orla schaute nicht auf. Die Tätowierung tat so unfassbar weh, dass Orla gern in Ohnmacht gefallen wäre. Aber sie hielt die Augen offen und ertrug es. Die Chefin bot ihr keine längere Pause an, aber sie hielt immer wieder inne und legte Orla die beringte Hand auf die Schulter. Durch ihr T-Shirt fühlte Orla das kühle Metall. Beide schwiegen. Orla kam es vor, als habe sie Stunden um Stunden dort gelegen, halb bewusstlos vor Schmerz. Als die Sitzung vorbei war, wurde es draußen schon dunkel.
Beim Anblick des CD – Gutscheins und des zusammengefalteten Fünfzig-Euro-Scheins lachte die Frau aus dem Tattoo-Studio, schaute Orla hart an und sagte:
– Bei meinem ersten Mal war ich genau in deinem Alter.
Und mit beißendem und zugleich mütterlichem Spott fügte sie hinzu:
– Ich will, dass es für dich etwas ganz Besonderes wird.
Und sie schob sich die schwarzen Haare auf die rechte Schulter und zeigte Orla einen kleinen chinesischen Drachen auf dem Hals unter ihrem linken Ohr, die Flügelspitzen reichten bis in den Nacken.
– Er war mein Erster. Ich mag ihn immer noch. Okay, ich nehme deinen Gutschein und deine fünfzig Euro, heute ist dein Glückstag, Kleines, aber solltest du dich jemals wieder tätowieren lassen, dann hör mir jetzt gut zu: Geh nicht zu jedem. Lass dich nicht von stümperhaften Stechern entstellen. Schau dir genau an, wen und was
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