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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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nach oben dringen. Mein kleines Leben ist nicht abgerundet durch den Schlaf, von ihm umringt schon eher. Allein aus beruflichen Gründen.
    Einige Tage nach unserem Picknick am alten Hafen traf ich Benno im Chor. Joachim erzählte uns etwas über das Tränen-Motiv in der Lautenbegleitung von »Come Heavy Sleep«. Dowland hatte eine Melodiefolge entdeckt, anscheinend bei einem anderen Komponisten, aus der er vier Töne isolierte, die für ihn den Inbegriff der Seelenpein bedeuteten und die er, copy and paste, als Versatzstück in einigen seiner Lieder unterbrachte. Dowlands Lachrimae wurde seinerseits wieder von Zeitgenossen kopiert und in neuen Zusammenhängen zitiert. Und eine Tränenflut ergoss sich über die Renaissance.
    Was der Unterschied zwischen kopieren und zitieren sei, hatte Benno daraufhin gefragt, und ab wann man es plagiieren nenne. Dowland habe ja die Töne ständig verändert, nur die Abstände zwischen den Tönen seien dieselben geblieben, ob er damit falsch zitiert habe? Oder nur neu interpretiert? Und habe Dowland zugegeben, dass die Tonfolge nicht von ihm sei? Oder könne man die Tonfolge in ihrer Isoliertheit und den neuen Kontexten als das Äquivalent zu Intertextualität bezeichnen, und sei er, also Dowland, sich keiner Schuld bewusst gewesen, nein, habe sich nicht einmal schuldig gemacht?
    Wir starrten ihn an. Marthe, die mir gegenüberstand, verzog den Mund, ich konnte sehen, dass ihre Neugier geweckt war. Nicht auf das, was Benno fragte, sondern auf das, was ihn umzutreiben schien. Woran arbeitete er eigentlich genau?

    – Ich schreibe an meiner Doktorarbeit über die deutschen Schutztruppen in Südwestafrika, erklärte er nach der Probe.
    Wir standen vor der Tür zum Kellereingang des Rathauses. Ich hatte Joachim versprochen abzuschließen, weil er noch zu Heidrun ins Heim wollte. Ich sollte ihn dort später ablösen. Orla war auch längst losgefahren, wer wusste schon, was sie vorhatte, ich jedenfalls nicht. Benno hatte mir dabei geholfen, die hohen Fenster zu verriegeln, und jetzt wartete er, während ich den Schlüssel in meiner Notentasche vergrub.
    Benno wohnte nicht direkt in Grund, sondern im Nachbardorf, das einerseits die gleiche Postleitzahl hatte wie Grund, andererseits die Telefon-Vorwahl der Stadt. Es war weder Stadt noch Land, hatte aber ein Gymnasium, eine Sammelstelle für die Landjugend dieser Gegend, ich war auch dort hingegangen. Schüler aus der Stadt kamen fast nie zu uns. Orla war jetzt auch auf dieser Schule, sie hatte sogar zwei meiner früheren Lehrer. Weder verfluchte ich meine Schulzeit, noch verklärte ich sie, aber es rührte mich, wenn ich bei den Elternabenden in die vertrauten Gesichter blickte, die inzwischen müder, aber auch milder wirkten und bei denen ich dennoch das Gefühl hatte, dass sie nicht so stark gealtert waren wie ich selbst. Die Lehrer waren damals schon alt gewesen, und jetzt waren sie immer noch alt.
    Ich fühlte mich müde und mild, als ich an jenem Abend die Rathaustreppe hinaufging. Vor der Probe war ich bei Heidrun gewesen und mit dem Kopf auf ihrer Matratze eingeschlafen. Ihr Schnarchen hatte mich geweckt. Es füllte das ganze Zimmer. All ihre Kraft steckte in diesem lauten Atmen, jedes Grunzen, Fauchen, Schnauben, Zischen, Hauchen schrie: »Ich schlafe, also bin ich.«
    Und was ist mit denen, die nicht schlafen?

    Benno und ich schlossen unsere Räder auf, es war warm. Der September war ein Sommermonat in Grund, Altweibersommer zwar, aber immer noch Sommer. Die Spinnenfäden flogen in der Abendsonne und verfingen sich in unseren Haaren, und vielleicht sagte ich deshalb zu Benno:
    – Komm noch mit mir hinunter zum Fluss. Ich wohne sowieso dort.
    – Gibt es da unten überhaupt Häuser?
    – Nur ein paar. Diese Biker-Kneipe ist dort. Ich wohne im Haus davor.
    Wir fuhren das Tiefgestade hinunter, am Baggersee vorbei.
    – Möchtest du sehen, wo man hier baden kann?
    – Ja. Badest du dort auch?
    – Schon mein ganzes Leben lang.
    Wir bogen rechts in den kleinen Weg zur ersten Bucht des Sees. Als wir wieder nebeneinander Platz hatten, fuhr ich fort:
    – Immer, zu allen Jahreszeiten, Tag und Nacht. Andreas, also unser Andreas, der den Bass singt, er und ich, wir sind nachts hier herumgelaufen und haben die Schilder, auf denen »Baden verboten« stand, mit Edding durchgestrichen und »Württemberg verboten« darüber geschrieben.
    – Mit Andreas? Ach ja?
    – Ja. Wir sind vom Schwimmbagger gesprungen, der mehrere Sommer lang im See stand.

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