Vom Schlafen und Verschwinden
spannte sie in das Strebewerk der Überlandleitungsmasten, die auf dem Feld hinter Joachims Haus standen. Orla konnte stundenlang auf dem Rücken unter den Masten liegen und in den Himmel schauen. Einmal, ich kam auf dem Radweg durchs Feld aus dem Nachbardorf, entdeckte ich ihr Fahrrad und fuhr zum Mast. Orla lag auf dem Betonsockel wie ein Menschenopfer auf einem Altar. Es gefiel mir nicht, aber ich legte mich dazu und ließ meinen Blick von dem langen eisernen Trichter nach oben saugen.
Große Wolken zogen vorüber, nicht schnell, doch ständig drängten welche nach. Es war schwierig, zuzusehen und dabei regungslos liegen zu bleiben. Immer wieder setzte mein Körper an, mitzurollen. Und warum wurden die Wolken nicht von der Spitze des Mastes aufgeschlitzt? Wurde meinBlick überhaupt nach oben gelenkt, oder schauten wir vom Himmel herab nach unten? Ein Schwindel ergriff mich, ich musste die Augen schließen.
Mir ist, als hätte ich kurz geschlafen, hier auf Orlas Bett. Nicht tief, nur irgendwo im Theta-Wellenbereich, ein paar Spindeln voll Schlaf.
Orla schläft. Warm, ernst und ungerührt. Sie ist so jung. Und dennoch bin ich manchmal erschrocken darüber, dass diese junge Frau meine Tochter sein soll.
Orla ist siebzehn und groß und stark: Sie misst eins vierundachtzig, und sie ist schwer. Außer ihren Ohren ist nichts an ihrem Körper klein. Ihre Wangen sind rund, aber die breiten Jochbeine stehen so weit vor, dass ihre Augen an den äußeren Winkeln schräg nach oben gezogen werden. Ihr Mund ist groß und scharf umrissen, jetzt ist er ein wenig geöffnet, und ich kann im Dunkeln ihre oberen Schneidezähne sehen. Ihre Nase ist lang und schmal, ein wenig knöchrig und mit eher länglichen als runden Nasenlöchern. Sie hat einen starken weißen Hals, und ihre Schlüsselbeine treten deutlich hervor. Vom Rudern in Irland hat sie breite Schultern und muskulöse Arme. Ihre Brüste sind jetzt unter der Decke, aber wenn sie es nicht sind, erregen sie die Aufmerksamkeit von Männern wie von Frauen. Die Mutter einer Klassenkameradin in Grund riet ihr, lieber engere, ausgeschnittene Oberteile zu tragen. Und es stimmt: Seit Orla ihren Busen nicht mehr unter kindliche T-Shirts packt, schauen die Leute zwar immer noch hin, aber wie mir scheint, weniger mit Neugier oder nur Gier als vielmehr mit Respekt. Orla hat eine schmale Taille und einen runden Po. Ihre Beine sind stark, energisch, mit definierten Schenkeln und Waden und guten Fesseln. Ihre Finger sind lang und die Hände kräftig, ihre Füße haben Schuhgröße 42 einhalb. Sie findet, flache Schuhe sähen an ihr aus wieKindersärge, also trägt sie meist Stiefel mit Absätzen und ist damit noch größer.
Orlas neuer Musiklehrer an ihrer Hamburger Schule pfeift jedes Mal den »Ritt der Walküren«, wenn sie an ihm vorbeigeht, was sie kränkt.
Ich sagte ihr, sie solle daran denken, wie sie als Kind immer laut singend die Apfelsaftflaschen aus Joachims Keller geholt hat. Denn nur so waren jene Ängste zu bannen, die einen heimsuchten, sobald sich einem die dicke, kühle Kellerluft entgegenstellte. Die Mörder, Skelette und Ungeheuer, die am Fuße der Treppe lauerten, blieben in Deckung, aber nur, solange man sang. Tatsächlich ist es neurologisch fast unmöglich, gleichzeitig zu singen und Angst zu empfinden. Der Musiklehrer musste offensichtlich aus ganz ähnlichen Gründen pfeifen. Orla lachte über meine Erklärung, aber sie gab sich damit zufrieden. Sie sagte, sie habe Heimweh.
– Nach Grund?
– Nach Irland. Na ja, nach Grund vielleicht auch etwas.
Mag sein, dass aus ihrem Heimweh die Äolsharfen entstanden.
Nach jedem Einkauf untersucht sie ihr Wechselgeld nach irischen Münzen und bewahrt sie auf. Auf allen irischen Geldstücken ist eine Harfe.
In Grund war es windstill.
Manchmal gab es einen Sturm, doch er hörte immer bald auf, um einem langen Regen zu weichen. Die Rheinwälder füllten sich mit Wasser, und wenn man durch die Auen ging, konnte man sehen, wie im dunklen Unterholz die Schwäne still und weiß und wie traumverloren zwischen den Bäumen hindurchglitten.
Wir sind aus solchem Stoff, wie Träume sind, und unser kleines Leben ist von einem Schlaf »umringt«. Joachim findet, dass es auch mit »gerundet« übersetzt werden könne,nicht nur »umringt«. Obwohl mich »gerundet« mehr an Grund erinnert, glaube ich eher an eine Umringung des Traums durch den Schlaf. Glaube an Wassernüsse und Seerosen, die wie Erinnerungen vom Grund der Gewässer
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