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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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Schlaftabletten haben oder Antidepressiva.
    Im Winter ist der Wind scharf und schlägt einem seine dünnen, langen Zähne in die Haut. Er schlängelt sich in die Ärmel, die Hosenbeine und in die Löcher für die Schnürsenkel im Schuh.
    Im Herbst und im Frühling herrscht Sturm. Der Regen kommt von der Seite, und aus den Mülleimern staken zerbrochene schwarze Schirme. Es sieht aus, als wäre ein Schwarm riesiger Raben tot vom Himmel gestürzt und von Passanten hastig beiseitegeschafft worden.
    Es gibt Orte in der Stadt, bei der Philosophischen Fakultät oder vor der Petrikirche, an denen immer ein Orkan tobt, selbst wenn im Rest der Stadt nur eine frische Brise weht. Ich musste einige Male zur anglistischen Bibliothek, um für meine Kulturgeschichte des Schlafs ein paar bibliografische Daten zu Shakespeare nachzuprüfen. Mein Fahrrad, das ich vor dem Philosophen-Turm in den Fahrradständer gestellt hatte, wurde vom Wind flach auf den Boden gedrückt, obgleich sein Vorderrad noch zwischen den Eisenstangen steckte. Die Felge war in einem rechten Winkel zur Seite geknickt. Als ich mich umschaute, fassungslos, sah ich, dass alle anderen Räder nicht in, sondern neben dem Fahrradständer abgestellt worden waren, wo sie einfach umfallen konnten.
    Den ganzen Tag heult der Sturm um das Gebäude und rüttelt an den halb blinden Scheiben. Doch sobald man das Unigelände verlässt, beruhigt sich das Wetter. Der Campus ist wie das Land, das nicht sein darf, und ich bin mir sicher, er würde unter Getöse versinken, würde man alle Türen und Fenster des Philosophen-Turms gleichzeitig aufreißen.

    Orla hat angefangen, aus alten Stromkabeln Windharfen zu bauen. Sie tut es nachts, denn es ist bestimmt verboten, öffentliches Eigentum mit Windharfen zu verschandeln. Manchmal baut sie sie auch tagsüber, aber nur für Leute, die ihr Geld dafür geben. Sie baut große für Brücken und Hochspannungsmasten, mittlere an Fahrradständern, Telefonzellen und städtischen Mülleimern und kleine aus sehr dünnen Kabeln in Fensternischen und Gittern, und einmal sah ich eine im Griff einer Seitentür der Altonaer Kirche.
    Ich bin froh, dass Orla nicht mehr ihre »Rauchzeichen« macht wie noch in Grund, wo sie kurze Verse oder Aphorismen auf Zigarettenpapier schrieb, die sie dann nach ebenso vielen Minuten rauchen musste wie der Satz Wörter hatte. Sie sagte mir immer wieder, sie sei keine Raucherin, aber das Rauchen sei Teil des Konzepts, und für die Kunst müssten eben Opfer gebracht werden.
    – Inspiration ist so etwas wie Einatmung! Hat Opa gesagt. Und spiritus ist der Geist. Und um dieses Sicheinverleiben von Geist geht es mir. Gerade du solltest das verstehen. Ich stelle eine flüchtige Einheit von Körperlichem und Spirituellem her, indem ich meine Texte rauche.
    Ich verfluchte Joachim und seine sprachgeschichtlichen Ausschweifungen. Er sollte sich nicht in meine Erziehung einmischen.
    – Und womöglich wirst du morgen deine Texte in Spiritus auflösen und trinken? Was kommt als Nächstes? Sag mir das mal!
    – Wenn du mir meine Art der Kunst verbietest, zeigt das nur deine totalitäre Grundeinstellung. Du zwingst mich in die Rebellion. Es ist jetzt erst recht meine Pflicht, weiterhin Rauchzeichen auszusenden.
    Ich biss mir auf die Lippe und versuchte, Vertrauen zu haben in meine Erziehung und in die Klugheit meiner Tochter. Und tatsächlich hörte sie nach einigen Monaten damitauf, Rauchzeichen von sich zu geben, nicht etwa weil sie meine Einwände eingesehen hätte, sondern weil ihr keine guten Aphorismen mehr einfielen, und für mittelgute mussten offenbar keine Opfer gebracht werden.
    Daraufhin fing sie an, Labyrinthe zu bauen. Es begann damit, dass sie sich mehrere Spraydosen Farbe kaufte, 20 mal 20 Zentimeter große Ornamente auf dünne Pappe zeichnete, ausschnitt und als Schablonen benutzte, um Labyrinthe auf graue Stromkästen zu sprühen, eckig, rund, spiralig, simpel, manieristisch, psychedelisch. Manche der Labyrinthe glichen dem verschlungenen keltischen Knoten, den sie versteckt auf der Kopfhaut trug. Sie nannte sich fortan »Dead Alice« und trieb sich spätnachts mit dem Fahrrad allein im Dorf herum. Ich war mir nicht sicher, ob die Rauchzeichen nicht doch besser gewesen waren, zumindest waren sie legal. Und wer wusste, was für Gestalten um diese Zeit noch unterwegs waren, selbst hier auf dem Land, gerade hier.
    Irgendwann wurden die Labyrinthe dreidimensional. Sie kaufte sich meterweise blaue Wäscheleine und

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