Vom Schlafen und Verschwinden
Glasflaschen, die wir auf Briefe hin untersuchten. Einmal fand Andreas eine Postkarte, aber nicht in einer Flasche, sondern an einem weichen Gummirest, der sich schleimig anfühlte und von einem roten Luftballon stammen musste. Die Schrift war ganz weggewaschen, die Karte schon ein wenig aufgelöst, lange konnte sie noch nicht im Wasser gelegen haben. Zum Trocknen legte er sie in die Astgabel einer Trauerweide und nahm sie später mit.
Wir klaubten die Stechkrallen vom Ufer des Hafens, jene dunklen Früchte der Wassernuss, die nur noch an wenigen Stellen wachsen. Sie sahen aus wie kleine Teufelsköpfe. Andreas hatte mir einmal einen echten Wasserteufel, einen cartesischen Taucher aus Glas, zum Geburtstag geschenkt. Er schwamm in einer Halbliter-Plastikflasche voll Leitungswasser. Wenn ich die Flasche mit der Hand zusammenquetschte, erhöhte sich der Druck und der Glasteufel tauchte ab. Eines Tages lag er am Boden seiner Flasche und bewegte sich nicht mehr. Ich dachte, er sei kaputt. Andreas schüttete das Wasser aus, nahm den gläsernen Teufel an die Lippen und blies ein paarmal hinein, bis Wasser herausspritzte, danach konnte der Wasserteufel wieder aufsteigen. Am Abend vor den Bundesjugendspielen legten wir die Stechkrallen in ein Glas Wasser und tranken davon. Andreas sagte, das sei gut gegen Seitenstechen. Ich habe tatsächlich nie welches bekommen. Gewonnen habe ich allerdings auch nie.
Der alte Hafen war schon damals längst kein Hafen mehr. Ein abgeschnittener Arm des Rheins, umsäumt von gelben Trauerweiden, deren Zweige manchmal tief ins Wasser hingen und schon tags darauf wiederum viele Schritte vom Wasserrand entfernt waren. Je nach Pegelstand des Rheins füllte und leerte sich der alte Hafen. Angler hatten ihre Holzboote dort vertäut, Graureiher und Störche standen auf der anderen, der Waldseite im seichten Wasser und stachen mit ihren Schnäbeln nach den Fischen.
Das Haus, in dem Orla und ich wohnten, lag ganz in der Nähe. Mit dem Fahrrad musste ich nur dem Deich folgenund war in fünf Minuten am Hafen. Wenn es warm war, kamen viele Menschen hinunter an den Fluss, aber nicht so viele an den Hafen. Es gab eine Kneipe am Wasser, doch fuhr man ein bisschen weiter, wurde es ganz still.
In dem Spätsommer, als Heidrun ins Koma fiel, fuhr ich fast jeden Abend an den Hafen, weiter an den Baggersee, einmal um den See herum und durch die Maisfelder nach Hause. Ich schob mein Fahrrad unter den Trauerweiden hindurch. Es war ein trockener Sommer, die Bäume standen ein ganzes Stück vom Wasser entfernt. Ich hatte eine Thermoskanne mit Tee dabei und ein Stück von dem Zitronenkuchen, den Orla gebacken hatte, um mich aufzuheitern. Da es Orla war und sie nichts machte, das nicht irgendein Geheimnis barg, hatte sie in den Kuchen ein einziges Ferrero Rocher versenkt. Und es befand sich hier in meinem Stück. Schon beim Schneiden hatte ich es gemerkt. Ich setzte mich auf den Anleger, ließ die Beine baumeln und legte meine Arme auf die untere Stange der Balustrade. Der Anleger ragte vier Meter aus dem Wasser, ein massiver Sandsteinblock mit Brüstung.
Als ich meine Kanne aufgeschraubt und den Kuchen neben mich gelegt hatte, hörte ich Schritte. Es war ein warmer Abend, und ich war nicht die Einzige, die diesen Ort schön fand. Also drehte ich mich nicht um.
– Guten Abend, Frau Feld, ich meine Ellen, oje, müssen wir uns auch außerhalb des Chores duzen?
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und versuchte, in das Gesicht von Benno Hoffmann zu schauen, aber die Sonne blendete mich. Ich kniff die Augen zusammen und fragte:
– Kommen Sie noch mal wieder zu mir?
– Ja. Nein. Also was meinen Sie? In die Praxis?
– Ja, was sonst?
– Nein, ich glaube nicht, nein, ehrlich gesagt, nie wieder.
– Ja, ja, ist ja schon gut.
Ich hatte es schon beim ersten Nein verstanden. Er war anscheinend immer noch beleidigt. So schlimm waren die Hobbys nun auch nicht gewesen. Außerdem hatte ich ja völlig recht damit.
– Nein, so meinte ich es nicht.
Er hörte sich nervös an, was mich beruhigte.
– Doch, so meinten Sie es, aber ich werde es überleben. Was ich hingegen nur schwer überleben werde, ist mit verbogenenem Nacken noch länger in die Sonne zu gucken. Ich werde nicht nur erblinden, sondern mir vor allem binnen weniger Minuten das Genick brechen, mein Kopf wird in einem verstörenden Winkel von meinen Schultern hängen, und Sie werden marodierend über meinen Kuchen herfallen, und das wäre das Schlimmste
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